Sehnsucht nach dem Falschen
Spaniens Trainer hat ein Torwartproblem: Die Fans wollen Iker Casillas, doch der Star ist nur noch eine Randfigur
Fast schon demonstrativ postierte sich Iker Casillas damals seitlich an der Strafraumkante. Um an diesem schwülwarmen Sommerabend des 22. Juni 2008 im Ernst-Happel-Stadion zur Entscheidung eines wegweisenden EM-Viertelfinals zwischen Spanien und Italien alles im Blick zu haben: die mitfiebernde Fankurve, den konzentrierten Schützen Cesc Fabregas und den fokussierten Kollegen Gianluigi Buffon. Der spanische Schlussmann verschränkte sodann die Hände hinter dem Hals, schob die Ellbogen zurück.
Der zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alte Schlussmann hatte ja alles getan, was in so einer epochalen Nervenschlacht von seiner Seite zu tun war: Er hatte zuerst einen platzierten Schuss von Daniele De Rossi aus dem rechten unteren Ecke gefischt, dann einen missglückten Versuch von Antonio Di Natale auf seiner linken Seite abgewehrt. Weil aber auch Buffon einmal gehalten hatte, hing alles an Fabregas, der auch im aktuellen spanischen EM-Aufgebot noch die Zehn trägt. Als dieser zum 4:2 verwandelt und der deutsche Schiedsrichter Herbert Fandel abgepfiffen hatte, streckte der eigentliche Matchwinner nur kurz die Arme in die Höhe. Mehr war an Gefühlsregung im ersten Augenblick nicht möglich.
Erst viel später sollte auch Casillas begreifen, welches Erweckungserlebnis aus dem Wiener Prater ausging. Die prägende Ära, die Krönung zum Europameister 2008 und 2012 sowie zum Weltmeister 2010, begann mit dieser magischen Nacht. Denn bis dahin war es den Spaniern nie gelungen, die Squadra Azurra in einem Pflichtspiel zu bezwingen. »Das ist meine beste Erinnerung mit der Nationalmannschaft. Sie steht noch über der Weltmeisterschaft von Südafrika. Luis Aragones hat damals 2008 die Wurzeln für die die Zukunft des spanischen Fußballs gelegt«, sollte Casillas erst später erklären. König Juan Carlos erkannte die Bedeutung eher: »Danke, dass das geklappt hat«, hat der Monarch angeblich dem Nationalhelden in der Kabine geflüstert.
Casillas und Kollegen sollten damit die Deutungshoheit im Weltfußball übernehmen. Als sich Spanien und Italien bei der Europameisterschaft 2012 im Finale von Kiew duellierten, überrollte »La Roja« bereits einen mental und körperlich ausgelaugten Gegner. Und ihr Torhüter empfing nach dem 4:0-Triumph wie selbstverständlich die Trophäe. Der heute 35-Jährige bildet damit auch die griffigste Klammer zum nächsten Showdown.
Iker Casillas ist allerdings zur Randfigur verkommen, wenn sich die beiden stolzen Fußballnationen bereits zum Achtelfinale im Stade de France (Montag 18 Uhr) messen. »San Iker«, der heilige Iker, trägt zwar noch immer die Nummer eins, aber er ist sie nicht mehr. Lange, lange ließ Nationaltrainer Vicente del Bosque die Entscheidung offen, schließlich fungiert einer mit 167 Länderspielen nicht nur als Rekordnationalspieler, sondern offiziell gar noch als Kapitän.
Das Vertrauen erhielt gleichwohl David de Gea, ungeachtet der pikanten Ermittlungen um einen Pornoring, in den der Schlussmann von Manchester United verstrickt sein könnte. Die unschönen Schlagzeilen hat der 25-Jährige offenbar nicht abschütteln können wie eine lästige Fliege - seine Flatterhaftigkeit hat gegen Kroatien (1:2) mal eben den Gruppensieg gekostet. Aber diejenigen, die sich jetzt wieder »San Iker«, den heiligen Iker, ins Tor wünschen, sitzen einer falschen Sehnsucht auf. Was auch del Bosque andeutete, als er anmerkte: »Mich schmerzt es auch, dass Iker nicht spielt, aber wenn ich Zweifel habe, versuche ich, den Besten zu nehmen.«
Casillas hat - anders als der dreieinhalb Jahre ältere Buffon - sein Niveau die vergangenen Jahre nicht mehr halten können. Bei Real Madrid hatten sich Fehler genauso gehäuft wie in der Nationalmannschaft, und auch wenn sein Abschied bei den Königlichen vielleicht wenig würdevoll geriet, war die Abschiebung zum FC Porto sportlich nachzuvollziehen. Auch beim portugiesischen Renommierklub blieb er fortan nicht fehlerfrei.
Trotzdem tobt die Torwartdebatte beim Titelverteidiger seit Beginn des Turniers. Kaum eine Pressekonferenz vergeht, in der Vicente del Bosque nicht danach gefragt wird. Ihm ist vor allem daran gelegen, den teaminternen Frieden zu wahren - und seine Institution nicht zu beschädigen. »Ich glaube, dass diese Situation Casillas noch größer machen kann als er bereits ist«, sagte der 65-Jährige zuletzt in einem Radiointerview. »Er ist eine Legende, und mit jedem Tag, der vorübergeht, kann er noch wachsen - auch in dieser Lage.« Doch nicht auszudenken, in welche Situation del Bosque kommt, wenn nun ein Tormann seines Vertrauens das Ende einer Ära besiegelt. Und Casillas die ganze Zeit so tatenlos zugeschaut hat wie vor acht Jahren nur beim letzten Elfmeter.
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