Auf der geteilten Insel
Martin Leidenfrost über die innerirische Grenze und den Zorn der englischen Provinz auf osteuropäische Gastarbeiter
Kurz vor dem Referendum wanderte ich von Nordirland nach Irland. Die Landstraße war so schmal, dass ich mich bei durchdonnernden LKW an die Hecke pressen musste. Schön war nur das Stück am »Ulster Canal«, einer schon vor der großen Hungersnot aufgegebenen Wasserstraße. Langbeinige, grazile Kühe stöckelten daran entlang. Die Grenze war seit den Neunzigern abgebaut, fast nur noch der Wechsel von Meilen auf Kilometer erinnerte an sie. Wieder einmal leere Kilometer abgespult, dachte ich. Dann kam aber das Ja zum Brexit. Inzwischen droht die Wiedererrichtung der inneririschen Grenze, und inzwischen hat sich der Plebejerzorn der englischen Provinz mit Commonwealth-Sucht und Priesterkastendünkel gegen osteuropäische Gastarbeiter verbündet.
Ich startete im letzten nordirischen Dorf Middletown. Ein Handelsreisender klappte auf dem Bürgersteig einen Koffer voller Messer auf. Er verstand einen zweiten Messerkoffer aufzuklappen, während sich der erste wie durch Zauberhand schloss. Die angesprochene Frau zog ihre zwei Enkel auf die andere Straßenseite. Sonst kein Mensch, für Einkaufsverkehr stand das Pfund zu hoch. Wegen Erstattung der Umsatzsteuer lohnte sich allenfalls Tanken in Irland. Einige Südiren waren ins schwer subventionierte Nordirland gezogen; Kfz-Steuer 30 statt 200 Euro.
Hinter mir lag der nordirische Kreis Armagh. Ähnlich wie der Rest Nordirlands, das mit 56 Prozent für den Verbleib in der EU stimmte, wählte auch diese stille Gegend ungefähr entlang der konfessionellen Trennlinien. Vor mir lag der abgelegene südirische Landkreis Monaghan, bekannt für das Irrenhaus, das 1919 den ersten Sowjet im britischen Imperium ausgerufen hatte.
Endlich in der Republik Irland angekommen, traf ich auf desinteressierte Südiren, denen oft nicht einmal der Begriff »Brexit« geläufig war. Ein südirischer Landarbeiter versorgte die Kühe seines nordirischen Chefs: »Ho-oh!« Er war 20 Jahre lang »Lorryman« gewesen und sah alles durch ein LKW-Prisma: »Beim Rinderwahn waren Grenzkontrollen gut«, »für Lorrymen sind verschiedene Währungen gut«, »vielleicht sollte alles so bleiben, wie es ist.« Der Bauer, der mich zurück nach Middletown mitnahm, hing an den EU-Förderungen: »Well, I’m a farmer.«
In Middletown ging ich ins Take-Away »Balti House«. Zwei junge Bangladescher, die im Fall des Brexit um ihre Imbissläden fürchteten, schimpften drin auf die »rassistischen« Tories. Der eine war in Bangladesch ein »hochrangiger Politiker« gewesen: »Um dort gewählt zu werden, brauchst du eine Million, kriegst aber 15 Millionen raus.« Er sah im Referendum ein Machtspiel Camerons. Cameron werde nach einem Ja in der EU bleiben, »er will über ganz Europa herrschen«. Obwohl in Irland ansässig, verfolgte er keine irische Politik, »die wird in London entschieden«. Er sprach mit Hochachtung vom »Gehirn«, das Engländer anderen Nationen voraus hätten: »Wie hätten sie sonst so lange die siebzigmal so große Bevölkerung von Indien beherrschen können?« Er sagte mit funkelnden Augen: »Da sie uns beherrscht haben, verstehen wir jetzt ihr Denken.«
Seit dem Votum fordert die gesamtirisch-katholische Sinn Fein die Wiedervereinigung Irlands. Das kommt wohl zu früh, die Demografen erwarten in Nordirland erst ab 2021 eine katholische Mehrheit. Für den Brexit warb auch eine Tory-Politikerin uganda-indischer Herkunft, Nachkommin der von Idi Amin vertriebenen Wirtschaftselite Ugandas. Vorher hatte Priti Patel für British American Tobacco lobbyiert. BAT hatte ein Imageproblem, da es seinen Arbeitern in Burma nur 15 Pfund im Monat zahlte, was die Arbeitsministerin Großbritanniens für 165 Pfund die Stunde zu argumentieren suchte. Nun im Juni hetzte die Hindu-Nationalistin im Kloakenblatt »Sun« des Australiers Rupert Murdoch gegen osteuropäische Gastarbeiter: Nach dem Brexit »würden wir die klügsten und produktivsten Leute kriegen statt einer unbeschränkten Anzahl oft ungelernter Migranten aus Europa.« Das zog. Boston in Ostengland, der Wahlkreis mit dem höchsten Anteil europäischer Gastarbeiter, stimmte mit 75,6 Prozent für den Austritt.
Nebenbei, zwei Drittel der EU-Migranten sind auch in Nordirland katholisch. Wenn sie von der nächsten britischen Regierung nicht rausgeschmissen werden, müssten sich diese polnischen Malocher nur um eine irisch-republikanische Identität erweitern - und Irland wäre nach hundert Jahren vereint.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.