Zum Schweigen verdonnert
Frankreichs Regierung verweigert eine Parlamentsdebatte zur Reform des Arbeitsmarktes
Keine Kompromisse! Auf diese Linie zu dem seit über vier Monaten heftig umstrittenen »Arbeitsgesetz« hat sich die französische Regierung festgelegt. Am Dienstagnachmittag verkündete Premierminister Manuel Valls, dass seine Regierung erneut - wie bereits am 10. Mai bei der ersten Lesung - auf den Artikel 49-3 der französischen Verfassung zurückgreifen werde; dieses Mal, um ihn über die Klippe der entscheidenden dritten Lesung zu bringen.
Der Einsatz dieses Artikels erlaubt es einer Regierung, die Vertrauensfrage mit der Verabschiedung eines Gesetzestextes zu verknüpfen und dadurch die Beratungsrechte des Parlaments auszuhebeln. Eine Aussprache in der Sache findet dann nicht mehr statt. Der einzige Weg, die Annahme des Textes noch zu stoppen, besteht dann darin, eine Mehrheit für ein Misstrauensvotum zu finden. Doch damit ist nicht zu rechnen, denn die parlamentarische Linke müsste sie gemeinsam mit der konservativen Opposition erreichen.
Bis Dienstagfrüh hatte es mehrere Tage hindurch so ausgesehen, als könne es doch noch einen »Kompromiss« um den umstrittenen Gesetzentwurf geben, der die meisten sozialdemokratischen ParlamentarierInnen zufrieden gestellt hätte. Laut der Pariser Zeitung »Le Monde« vom Freitag war auch Jean-Claude Mailly, der Chef von Force Ouvrière, des drittstärksten französischen Gewerkschaftsdachverbands, mit der Grundidee einverstanden. Mailly ist seit dreißig Jahren Mitglied der Sozialistischen Partei (PS).
Dieser Vorschlag lief darauf hinaus, die Höhe der Überstundenzuschläge auszuklammern, wenn - unter Anwendung des geplanten Gesetzes - die Unternehmen künftig Abkommen mit Minderheitsgewerkschaften abschließen können. Derlei Abmachungen fallen in vielen Aspekten ungünstiger für die Lohnabhängigen aus als Branchenvereinbarungen, zum Teil auch als das Gesetz. Zwar sollen Sperrvorschriften verhindern, dass auf diesem Wege Überstundenzuschläge auf Unternehmensebene gesenkt werden. Allerdings hätte dies kaum praktische Konsequenzen. Denn sie hätte nur dort gegriffen, wo Arbeitsstunden auch einen Status als erklärte »Überstunden« erhalten hätten. Dies wird allerdings für immer weniger geleistete Arbeitsstunden überhaupt der Fall sein.
Seit dem Arbeitszeitgesetz der Sozialisten vom Januar 2000, das eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 35 Stunden definierte - ist es dem Arbeitgeber nämlich erlaubt, einseitig einen Ausgleichszeitraum von bis zu vier Wochen festzulegen. Innerhalb dieses Zeitraums muss der Durchschnittswert von 35 Arbeitsstunden wöchentlich, ohne deklarierte Überstunden, erreicht werden. Dies kann aber auch dann der Fall sein, wenn in einer Woche 28 und in der darauffolgenden 42 Stunden gearbeitet wird. Erreicht der Arbeitgeber eine Vereinbarung mit Gewerkschaften zur Arbeitszeit, kann auf diesem Wege der Ausgleichszeitraum bis zu einem Jahr betragen. Nach Anwendung des jetzt geplanten Gesetzes wird die Ausgleichsperiode jedoch bis zu zwölf Wochen - bei einseitiger Festlegung durch den Arbeitgeber - und sogar bis zu drei Jahren bei einer Vereinbarung mit einer Gewerkschaft betragen. Immer weniger Arbeitsstunden, auch wenn sie in eine sehr ausgedehnte Arbeitswoche fallen, werden also überhaupt noch als Überstunden ausgewiesen.
Selbst diese Regelung wurde vom Regierungslager jedoch am Ende verworfen. Am Dienstag äußerte der Minister für parlamentarische Angelegenheiten, Jean-Marie Le Guen, ein beinharter Rechtssozialdemokrat, bei den Ankündigungen betreffend einen Kompromiss handele es sich »um ein Missverständnis«.
Nicht einmal einen kleinen Knochen wollte man also für sozialistische Parlamentarier reservieren. Regierungschef Valls baut darauf, auf Dauer werde es ihm die öffentliche Meinung oder wenigstens die Geschichte danken, dass er das Land »endlich reformiert« habe. Und, so hofft er, die Fußball-Europameisterschaft werde für ausreichend Ablenkung von der Politik sorgen.
Während die vermeintlichen Gegner der Valls-Reform innerhalb der PS offenbar kuschen, melden sich wenigstes ehemals hochrangige PS-Vertreter mit Widerspruch. So kritisierte die im Januar zurückgetretene Justizministerin Christiane Taubira, auf ihrem Facebook-Account der Verweigerung einer Aussprache des Gesetzentwurfes in der Nationalversammlung, dem französischen Parlament, mit den Worten: »Ohne Diskussion ist die Demokratie ein toter Stern.«
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