Im Land des runden Leders
Die EURO 2016 ist fast vorbei. Ein Turnier, dessen sportliches Niveau bis zum Ende umstritten blieb. Zum Glück ließen die Isländer, Iren und Waliser den Mangel an erstklassigem Fußball beinahe vergessen. Dem Deutschen Fußball-Bund, der trotz des jüngsten Skandals um das Sommermärchen 2006 mit sieben Millionen Menschen der mitgliederstärkste Verband der Welt ist, wird diese EM wieder reichlich neue Mitglieder bescheren. Ein paar Protagonisten des Amateurfußballs hat »nd« besucht – der Fußballalltag unterscheidet sich auf wohltuende Weise vom Zirkustreiben in Frankreichs Stadien.
Der Schiedsrichter
Wer in Berlin im organisierten Fußball spielt, kennt »Manne«. Kann gar nicht anders sein: Der Schnauzer. Der Berliner Akzent. Das betont korrekte Auftreten. Die Freundlichkeit. Manfred Küssner ist ein Original. Seit 1980 leitet der Schiedsrichter von FC Concordia Wilhelmsruh Fußballspiele, bis in die Landesliga reichte seine Lizenz zu den besten Zeiten – immerhin Berlins zweithöchste Liga. Die Zahl der Spiele, die er gepfiffen hat, ist locker vierstellig.
Heute pfeift der 65-Jährige Matches von der Freizeitliga bis hinauf zur Kreisliga A: »Für mehr reichen Kondition und Grundschnelligkeit nicht mehr«, sagt Küssner. Die Schiedsrichter werden vom Berliner Fußballverband jährlich auf Fachwissen und körperliche Fitness geprüft. Schiedsrichter müssen einiges leisten. Bei der EM laufen sie zwischen 10 und 13 Kilometern, im Amateurbereich je nach Spielklasse nur etwa die Häfte bis ein Viertel davon.
Das EM-Turnier in Frankreich hat auch dem rüstigen Referee eine Ruhepause verschafft. »Es war in diesen Tagen natürlich wenig los«, sagt Küssner: »Auch mal schön!« Ein paar Freizeitliga-Kicks, zu denen ist Küssner in seinem roten Golf II gedüst. Aber meist konnte er sein Auto stehen lassen und sich stattdessen die Spiele der Europameisterschaft anschauen. Seine Schiedsrichterkollegen in Frankreich - ausgestattet mit Headset, und reichlich Assistenten an Seiten- und Grundlinie - leisten ordentliche Arbeit, findet »Manne«. Am besten hat dem Berliner Schiri-Urgestein der Slowene Damir Skomina gefallen, der unter anderem Belgien - Wales und England - Island pfeifen durfte. »Diese Spielführung, dieses Fingespitzengefühl – toll!« schwärmt Küssner.
Den Ungarn Viktor Kassai hingegen, der das DFB-Viertelfinale gegen Italien pfiff, fand Manfred Küssner unmöglich. Scheinbar können auch Schiedsrichter andere Schiedsrichter für parteiisch halten, das legen zumindest Küssners Einschätzungen von Kassai nahe: »Ich weiß nicht, was die Deutschen dem Kassai getan haben, aber wie kann man denn so etwas pfeifen wie die Gelbe Karte gegen Hummels?«
Auch sonst gab es Anlass, sich zu ärgern. Die Schwalben, das Gemecker, die Nickligkeiten. »Alles schlechte Beispiele für den Amateurfußball«, findet Manfred Küssner. »Denn natürlich wird das bei uns alles schön nachgeahmt.« Ronaldo beispielsweise: »Viel zu affektiert. Das gehört sich einfach nicht!« findet Küssner. Er erzählt, dass es im Berliner Amateurfußball mittlerweile ruppig zugehe. Er habe sogar schon einmal ans Aufhören gedacht. Ronaldo solle sich mal ein Beispiel an seinem Real-Klubkollegen nehmen, Gareth Bale aus Wales. »Der ist ein vorbildlicher Sportskamerad.«
Bald beginnt in Berlin die neue Saison 2016/2017. Küssner freut sich drauf. Er pfeife einfach sehr, sehr gerne, sagt er. Mit dem Nebenjob an der Pfeife bessert der ehemalige LKW-Fahrer seine Rente auf, das gibt er unumwunden zu. 15 Euro gibt es laut Spesenordnung des Verbandes für einen Einsatz in der Kreisliga, plus fünf Euro Fahrkostenpauschale. »Natürlich bin ich nicht wegen des Geldes Schiedsrichter«, sagt Küssner. Er habe als Unparteiischer einfach immer wieder viele tolle Menschen kennengelernt und sehr viel Anerkennung erfahren: »Was meinen Sie, wie oft ich in Berlin auf der Straße angesprochen werde: Hallo Manne, wie geht’s!? Das ist unbezahlbar.«
Der Wirt
Ein Fußballplatz als Trutzburg inmitten der gentrifizierten Berliner Innenstadt: Auf teuerstem Berliner Bauland liegt mitten im Scheunenviertel der Platz Kleine Hamburger Straße. Eine hektargroße Fläche mit freiem Blick auf den Berliner Fernsehturm, umgeben von Designer-Lofts, Clärchens Ballhaus und dem Privatmuseum der Wella-Erben – der feuchte Traum eines jeden Immobilienmaklers. Der Kunstrasenplatz muss sich seit 1992 immer wieder der Spekulanten erwehren, doch bislang kann ihn der Verein Blau Weiß Berolina Mitte verteidigen. Das Hauptargument der Blau-Weißen wiegt schwer: Seit dem Abriss des »Stadions der Weltjugend« ist der Platz in der Kleinen Hamburger der einzige im alten Stadtbezirk Mitte.
Auch Frank Lapawa liebt diesen Ort. Gemeinsam mit seinem Bruder Ralf betreibt er die Vereinskneipe von Bero, so wird der Verein von den Eingeweihten genannt. Bero! Das lässt sich ja auch viel leichter rufen als das 14-silbige SV Blau Weiß Berolina Mitte 49. Beros Kneipe ist ein verwunschener Ort, eine urige Höhle, in der die Decke und die Wände mit Hunderten Wimpeln und Trikots verhängt sind: »Da brauchen wir nicht zu renovieren«, witzelt Frank Lapawa über den Wandbehang. »Ich hänge jeden Wimpel auf, den ich bekomme. Das hat sich rumgesprochen, mittlerweile kommen die Souvenirs schon mit der Post.« BFC Dynamo, MSV Duisburg, Girondins Bordeaux, Hansa Rostock, SV Wartenberg – hier findet wohl ein jeder Besucher eine Devotionalie seines Lieblingsvereins.
Weil man aus den Fenstern des Vereinslokal direkt auf den Platz gucken kann, nennen manche die Bero-Kneipe »die einzige VIP-Loge des Berliner Amateurfußballs«. Für die Gäste ist die Kneipe eher ein Zuhause. Das Wohnzimmer, in dem Frankie und Ralle für Behaglichkeit sorgen: mit Kaffee brühen, Bockwurst aufwärmen, Bier zapfen. »Wenn im Fernsehn Fußball läuft, mach ick uff«, sagt Frankie in bestem Berlinerisch. Er ist gelernter Kellner, von der Pieke auf, im Café Warschau hat er angefangen, später 20 Jahre lang das Quelleck in der Chaussseestraße betrieben. Eine echte Berliner Kneipe, mit der ältesten Zapfanlage der Stadt. »Bis 2008 habe ich da durchgehalten«, sagt Frank Lapawa, »dann war Schluss«. Heute betreibt er einen Friseursalon in Köpenick. Der ernähre ihn gut, sagt Lapawa. Die Vereinskneipe sei quasi ein Liebhaberprojekt: »Weil ich den Platz hier so geil finde. Weil ich den Verein hier so geil finde.« Bero sei eine Wucht, sagt Lapawa. Längst macht er im Vorstand des Vereins mit, der mehr als 1000 Mitglieder hat.
Frank Lapawa lief jahrelang selbst im Bero-Trikot auf, heute kickt er nur noch ab und an in der Ü50 mit - wenn sonst keiner da ist: »Ohne Knorpel im rechten Knie kannste nicht mehr allzu viel machen. Da ziehste einfach immer das Bein nach.« Stattdessen kümmert er sich im Verein nun ums Marketing. Eine der größten finanziellen Herausforderungen des Vereins sind die Bälle beziehungsweise der Ballschwund. Wann immer einer über den Zaun geschossen wird, verschwindet er auf den umliegenden Höfen. »Längst nicht alle werden zurückgebracht«, sagt er und zuckt mit den Achseln: »Aber so isset nun mal! Jehört dazu!«
Wegen der guten Lage des Bero-Platzes - Jette Joop kann von ihrer Terrasse auf den Platz schauen oder die Zuschauer vom Platz aus auf Jette Joops Terrasse - ist die Vereinskneipe meist gut besucht: Tattoo-Muttis aus Prenzelberg. Biocompany-Papas, die mit Frau und Kind gerade die Eigentumswohnung in der Linienstraße bezogen haben. Ahmed und Mehmet, die aus Wedding zum Kicken hierher kommen. Hansi und Waltraud aus Detmold, mit ihren Kindern zum Berlin-Wochenende angereist sind. Manchmal schauen auch Prominente bei Bero vorbei: Schauspieler beispielsweise. »Leute, die erkannt werden wollen«, nennt sie Frank Lapawa augenzwinkernd: »Denen sach ick immer: ‘Ick erkenn Dich nicht!‘« Bei Frankie und Ralle sind alle Gäste nur das, was sie sind: Gäste. Nicht mehr und nicht weniger.
Alte Herren
Wann wird man eigentlich alt? Im Fußball schon ziemlich früh. Mancher Landesverband hat die Altersgrenze bei 32 für die erste Senioren-Spielklasse angesetzt, andere sogar schon bei 30 Jahren. In Berlin ist bei den Alterklassen Ü32 und Ü40 gnädigerweise noch von Senioren die Rede, die sogenannte »Altliga« beginnt erst mit den Altersklassen Ü50 und Ü60 - über 50 Jahre, über 60 Jahre.
Frank Terletzki hat schon vor ein paar Jahren die Ü60-Grenze überschritten. Dem Jahrgang 1950 entstammt der Mittelfeldmann der Hertha-BSC-Oldies, anno 2016 läuft es für ihn eigentlich wie immer: Er siegt und siegt und siegt. Terletzki war einst Kapitän beim DDR-Serienmeister BFC Dynamo. Acht der zehn Meistertitel gewann Terletzki dereinst mit Erich Mielkes Lieblingsklub, für den er von 1969 bis 1988 in der Oberliga kickte. 373 Spiele, 91 Tore – Terletzki war einer von den ganz Guten, in jenem Klub, der vielen als das Böse schlechthin galt.
Heute spielt Terletzki bei dem Klub, der einst der Antipode des BFC Dynamo war: Hertha BSC Berlin, der Verein aus dem Westen der Stadt, einst im Wedding gegründet, später im Olympiastadion ansässig. Im Altenfußball sind Herthaner eine Macht. Die Ü60 hat quasi das Abonnement auf den Berliner Meistertitel, so wie einst der BFC in der Oberliga.
Mit Hertha so oft zu gewinnen, sei natürlich schön, sagt Terletzki. Doch darum gehe es nicht vorrangig. Er kicke vor allem, weil es noch immer solchen Spaß mache: »Wenns anfangen würde weh zu tun, würde ich aufhören. Doch es läuft gut.« Seit vielen Jahren schon lebt der gebürtige Berliner Terletzki in Schöneiche (Brandenburg). Den dortigen Verein Germania Schöneiche hat er als Trainer in den Jahren 1996 bis 2000 aus der Landesklasse in die Verbandsliga geführt. Nach seinem Abschied von Germania im Jahr 2004 hat er einige andere brandenburgische Vereine trainiert. Seit er Ende der 50er Jahre seine ersten fußballerischen Versuche bei der SG Prenzlauer Berg unternommen hatte, war Fußball für Terletzki ein selbstverständlicher Teil seines Lebens. Sein Vater war Vorsitzender bei der SG Prenzlauer Berg.
Die EM 2016 hat er sich im Fernsehen angeschaut. Warum es die DDR-Elf nie zu einer EM-Endrunde geschafft hat? Terletzki hat da so seine Theorien: »Man muss auch ein bisschen Glück haben im Fußball. Die DDR hatte sehr gute Fußballer, die Ausbildung war sehr gut. Aber es fehlte uns an internationaler Erfahrung. Auch mit dem BFC haben wir im Europacup super Ausgangspositionen gehabt und durch Unerfahrenheit am Ende doch noch verloren.«
Nur bei Olympia konnte der DDR-Fußball glänzen: 1976 gewannen die Fußballer in Montreal Gold, bei den Boykott-Spielen von 1980 in Moskau immerhin noch Silber. 1980 lief auch Terletzki im blauen Trikot der DDR-Nationalmannschaft auf. Er war Kapitän der Mannschaft, die beim Finale im Lenin-Zentralstadion auf dem Rasen stand: »Mein größtes Turnier!« erinnert er sich. Zu Halbfinale und Endpiel der Spiele von Moskau kamen jeweils 90.000 Menschen ins Stadion. Die Größe der Kulisse spiele aber eigentlich gar nicht so eine Rolle, sagt Terletzki. Natürlich sei man aufgeregt: »Aber ob nun 90.000, 60.000, oder 30.000 Zuschauer im Stadion sind, spielt keine Rolle. Der Adrenalinspiegel ist so hoch, man nimmt das gar nicht wahr.«
Türkiyemspor-Frauen
Montags ist bei Türkiyemspor Frauentag: 140 Mädchen und Frauen trainieren dann auf dem Sportplatz Blücherstraße – sämtliche Mädchen- und Frauenteams des Kreuzberger Fußballvereins. Fünf- und Sechsjährige aus dem G-Mädchen-Team erlernen Wurf- und Fangspiele, die F-Mädchen üben Ballannahme und Pass-Spiel. Bis in den späten Abend wechseln sich auf dem Kunstrasenplatz die kleinen und großen Türkiyemspor-Frauen ab. An diesen Montag allerdings wird es ruhig bleiben in der Blücherstraße: Kurz vor Ferienanfang ist die Mädchenabteilung zur Sommerfahrt auf die Insel Usedom gereist.
Die Frauen- und Mädchenabteilung des Vereins ist die größte im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, obwohl sie erst vor gut zwölf Jahren gegründet wurde. Türkiyemspor selbst ist deutlich älter: 1978 schon wurde der Verein von türkischen Migranten gegründet. Längst ist aus einem Klub der Freizeitfußballer einer der bekanntesten Migrantenvereine der Bundesrepublik geworden - auch, weil es die Männer 1994 mal bis in die Regionalliga Nordost schafften, damals die dritthöchste deutsche Liga. Nach einer Insolvenz spielt die »1. Herren« aber nur noch in der Landesliga. Die Türkiyemspor-Frauen hingegen sind gerade in die Berlin-Liga aufgestiegen - die höchste Spielklasse der Stadt, die vierthöchste Deutschlands.
»Wir definieren uns nicht als türkischer Verein«, so erklärt Frauentrainer Murat Dogan das Türkiyemspor-Prinzip, »sondern identifizieren uns mit unserer Stadt Berlin. Wir sehen uns als Berliner, die eben ein bisschen mehr als nur eine Kultur haben.« Bei Türkiyemspor sei jeder willkommen. Besonders viel Wert legt man bei den Kreuzbergerinnen auf die Ausbildung von Trainerinnen. »Im Trainerteam von Türkiyemspor arbeiten zehn Frauen mit einer C-Lizenz«, sagt Dogan. »So viele gute Coaches würden sich viele Jugendabteilungen wünschen.«
Karla Krüger ist die dienstälteste Türkiyemspor-Spielerin: Sie war 2004 in jenem ersten D-Mädchenteam dabei, das Türkiyemspors erstes Frauenteam war. Die Mittelfeldfrau ist die einzige, die aus dieser Zeit noch dabei ist. Seither hat sie nicht nur die gendergerechte Fußballsprache erlernt - Team statt Mannschaft, Hinterfrau statt Hintermann. Die 22-jährige Maschinenbaustudentin hat auch die C-Lizenz als Trainerin erworben. Den Prüfer vom Berliner Fußballverband überrumpelte sie, als sie ihm vorschlug, die sogenannte »Lehrprobe«, also den praktischen Teil der Prüfung, nicht mit Jungs, sondern mit Mädchen abzuhalten. »Hm, naja, gut!«, habe der altgediente Ausbilder erst mit hörbarem Zweifel gesagt, erzählt sie. Aber am Ende sei er restlos begeistert gewesen, sagt Karla Krüger: »Er hatte vor Rührung sogar Tränen in den Augen – und das nicht nur, weil es sein letzter Kurs als Ausbilder war!«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.