Die Nuss
Oliver Nachtwey gibt der Linken mit »Die Abstiegsgesellschaft« eine schwierige Aufgabe zu lösen
Seit dem Brexit-Votum ist alles anders. Jedenfalls aus der Nähe betrachtet. Tritt man einen Schritt zurück und schaut sich die »Beschissenheit der Dinge« aus einiger Entfernung an, wird recht schnell klar: Anders sind diese Dinge schon eine ganze Weile. Was sich im knappen Ergebnis des Referendums einen Ausdruck verschafft hat, lässt sich also nicht mit dem Verweis darauf erklären, was in den paar Monaten zuvor auf dem asylpolitischen Parkett geschehen ist. Oder mit dem Anti-EU-Wahlkampf der Konservativen und Rechten.
Es steckt mehr dahinter und dieses Mehr liegt weiter zurück. Man könnte in der gleichen Weise über den Aufstieg der AfD reden. Über die neuesten Zahlen, die von sozialem Abstieg und wachsender Armut künden. Über die Klassenspaltung im Wahlverhalten, die aktuellste Studie über Reallöhne, die wachsenden Überkapazitäten. Immer wieder wird man zu dem Punkt kommen, an dem erst die Frage nach den tieferen Gründen einen Erkenntnisfortschritt verspricht.
Was man »den Bruch« nennen könnte, liegt in Wahrheit viel früher. Seit Jahren wandern dreckige Splitter davon durch die Gesellschaft. Und hin und wieder eitert es an irgendeiner Stelle heraus. Die Suche nach »wirklichen Antworten« folgt dem richtigen Gefühl, da müsste doch schon viel länger etwas »kaputt gegangen« sein. Und es liegt in diesem Gedanken eine wichtige Voraussetzung dafür, etwas an der Substanz zu ändern - und nicht bloß jene Kosmetik zu betreiben, die sich »in dem Moment des Geschehens« den politischen Lagern aufdrängt.
Seit dem Brexit-Votum wird in der Linken viel von Neustart der Europäischen Union gesprochen - als ob das alte Betriebssystem immer noch taugt und nur wieder zum Laufen gebracht werden müsste. Zugleich kämpft die bürgerliche Rechte um die Betonierung von Verhältnissen, die ins Rutschen geraten - auch gegen die Sozialdemokratie, die auf die Idee gekommen zu sein scheint, dass ihre Zukunft nicht in ihrer jüngeren (Neoliberalismus), sondern in der früheren Vergangenheit (wohlfahrtsstaatlicher Kompromiss) liegen könnte: mehr Wachstum gleich mehr Spielraum für Umverteilung gleich weniger Ungerechtigkeit.
Wer wissen will, warum das zu kurz gesprungen ist, wird an Oliver Nachtweys Essay über »Die Abstiegsgesellschaft« nicht herumkommen. Was der derzeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung arbeitende Wissenschaftler darin »über das Aufbegehren in der regressiven Moderne« schreibt, ist kein Bestätigungsbuch für Linke - obwohl es aus einer pointiert kritischen Perspektive geschrieben ist, obwohl darin von Klassen und dem Kapitalismus die Rede ist, obwohl die Bewegungen darin vorkommen, die sich in progressiver Absicht gegen die herrschenden Verhältnisse wenden.
Nachtweys Text ist im Gegenteil: eine schwer zu knackende Nuss für die Linken. »Die Abstiegsgesellschaft« fasst nicht nur die Debatten um materielle und psychologische Effekte der Prekarisierung zusammen. Das Buch zeichnet nicht nur die Folgen dessen nach, was gemeinhin als Neoliberalismus bezeichnet wird.
Nachtwey spricht ebenso die »Krise der linken Imagination« an - was fehlt, »sind plausible Visionen und mobilisierende Utopien« in Zeiten, in denen bloß »Ideen für das permanente Krisenmanagement der rasend-stillstehenden Gegenwart« übrig geblieben zu sein scheinen. Dafür gibt es einen Grund, der dem Kapitalismus nicht auf die Rechnung zu schreiben ist, sondern den die Linke selbst zu verantworten hat: Sie macht es sich entweder zu einfach - oder zu einfach. In dem einen Sinne, wenn sie nicht zur Kenntnis nimmt, das in der regressiven Moderne »Fortschritt und Rückschritt auf widersprüchliche Weise miteinander verzahnt sind«, weil sowohl Diskriminierung, Beherrschung, Ausbeutung »verbessert« wurden, zugleich aber auch eine »reale Teilemanzipation« stattfand: den Freiheitszugewinn der neoliberalen Individualisierung zum Beispiel. Dahinter kann es so wenig ein Zurück geben wie die Zukunft nicht in der Vergangenheit der »sozialen Moderne« liegen kann, jenen Jahren des wohlfahrtsstaatlichen Kompromisses, die Nachtwey als eine »mittlerweile vergangene gesellschaftliche Konstellation« bezeichnet.
In dem anderen Sinne macht es sich die Linke zu einfach, sofern sie nicht radikal genug in die Substanz der herrschenden Verhältnisse einzugreifen bereit ist. Wenn Nachtwey die »Abstiegsgesellschaft« für das Aufkommen neuer rechter Bewegungen mitverantwortlich macht, wird die Größe der Herausforderung erkennbar - denn in Zeiten, in denen ein »Postwachstumkapitalismus« gar nicht mehr in der Lage ist, nachhaltig Spielräume der sozialdemokratischen Umverteilung zu schaffen, geraten »die Ressourcen und der Wille zur sozialen Integration« auf absehbare Zeit unter Druck.
Der regressive »Widerstand« von rechts ist in Wahrheit gar keiner, weil er die kapitalistischen Verhältnisse in ihrer Substanz nicht ändern, sondern »bloß« per ethnisierender, nationalistischer Spaltung zu Gunsten eines »Volkes« wenden will. Dass der Marktbürger im Grunde kein Bürger mehr ist, wie Nachtwey schreibt, »sondern ein Kunde mit Rechten«, dazu will das regressive Aufbegehren gar keine Alternative. Und das progressive Aufbegehren gegen die Verhältnisse bleibt sporadisch oder hat mit der »Repräsentationskrise der etablierten Linken« zu kämpfen.
Das ist die Nuss, die zu knacken ist: Einerseits einen politischen Weg der Veränderung zu finden, der davon weiß, dass eine Formation überwunden werden soll, in der gesellschaftliche Liberalisierung und ökonomische Deregulierung nebeneinander stattfinden - mehr Gleichberechtigung auf horizontaler Ebene (zwischen Geschlechtern und Lebensweisen etwa) und wachsende Ungleichheiten auf vertikaler, also ökonomischer Ebene. Und andererseits ein Modell von globaler, solidarischer Wohlfahrtsproduktion zu popularisieren, das einen echten Ausweg aus dem seit 1973 anhaltenden und durch keine keynesianische Intervention, durch keine neoliberale Deregulierung, durch keine Flut billigen Geldes gestoppten Niedergang »der westlichen Ökonomien« darstellt.
Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, edition Suhrkamp, 264 Seiten, 18 Euro.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.