Digitale Offensive der Versicherer
Telematik-Tarife
Ein Auto fährt auf einer Landstraße, kommt von der Fahrbahn ab und überschlägt sich mehrmals. Der Fahrer ist bewusstlos. Kein Mensch kommt an der Unfallstelle vorbei - und trotzdem ist innerhalb weniger Minuten der Rettungswagen vor Ort. Wie ist das möglich?
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) in Berlin hat ein Unfallmeldesystem entwickeln lassen, das genau das Richtige tut: Hilfe rufen, wenn es der Fahrer selbst nicht kann. Und daraus haben der GDV und seine Mitgliedsfirmen ein neues Produkt entwickelt - eine Kombination aus Unfallmeldedienst und Schutzbrief. 30 Euro soll das Sicherheitspaket beispielsweise bei der Allianz kosten.
Die Euro können an anderer Stelle wieder eingespart werden. Bis zu 30 Prozent weniger Prämien versprechen Versicherer ihren Kunden, die einen sogenannten Telematik-Tarif abschließen. Dann liefert eine App in Echtzeit Einblicke ins persönliche Fahrverhalten. Nach der Fahrt gibt die App dem Fahrer eine Rückmeldung zu seinem Beschleunigungs- und Bremsverhalten, zu Geschwindigkeit und Kurventechnik. Zudem lässt sich die gefahrene Strecke detailliert im Kartenformat nachvollziehen.
Damit bringen wir die Kfz-Versicherung »in das digitale Zeitalter«, freut sich Frank Sommerfeld, Vorstand der Allianz Versicherungs-AG. Der neue Tarif richtet sich an junge Leute bis einschließlich 28 Jahre. Die Wertung des Fahrverhaltens erfolgt in Form von Medaillen: Für sehr gute Fahrten gibt es eine Goldmedaille, für gute Silber oder Bronze.
Kommt mehr Sicherheit?
Was so spielerisch daherkommt, hat durchaus einen ernsten Hintergrund: Vor allem junge Männer gehören zu den häufigsten Verursachern von Unfällen. Die App soll auf deren Fahrverhalten bremsend einwirken und so zu mehr Sicherheit auf Deutschlands Straßen beitragen. Zugleich verursachen testosterongesteuerte Jungraser den Versicherern durch viele und schwere Schäden hohe Kosten. Diese durch Telematik-Tarife zu senken, hoffen auch weitere Versicherer. Demnächst will auch der andere Branchenriese, HUK-Coburg, damit an den Start gehen.
Blackbox auf Rädern
Doch es gibt erhebliche Bedenken von Verbraucher- und Datenschützern. Für einen Telematik-Tarif muss eine Blackbox installiert werden, die eine Analyse des Fahrstils weiterreicht. Dieser Bluetooth-Stecker wird in den Zigarettenanzünder des Autos gesteckt und verbindet sich automatisch mit der App und dem Internet.
Zwar versprechen Unternehmen wie die Sparkassen Direktversicherung höchste Datensicherheit. Das Produkt »Telematik-Sicherheits-Service« wurde mit dem Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit in Nordrhein-Westfalen besprochen.*
Zweifel bleiben aber. So verspricht die Allianz beispielsweise, keine Daten an Dritte zu übermittel: »Wir geben deine Daten auch nicht an die Polizei zur Aufklärung von Ordnungswidrigkeiten«, heißt es in der Werbung.
Nach einem Unfall kann es aber um mehr gehen, als »nur« um eine Ordnungswidrigkeit. Selbstverständlich werden Polizei, Staatsanwälte oder auch eine geschädigte Partei auf die Informationen im Zigarettenanzünder zugreifen wollen.
Wer zahlt die Zeche?
Und sollten sich die Telematik-Tarife durchsetzen? Experten befürchten, dass dann Big-Data Einfluss auf die Schadenregulierung nehmen und die Daten auch zur Risikoeinschätzung bei anderen Versicherungsverträgen verwendet werden. Verbraucher, die bereits heute mit einem Telematik-Tarif liebäugeln, sollten dies bedenken.
Es gibt noch ein weiteres Motiv der Versicherer, das für Verbraucher von Bedeutung ist. Hinter der Telematik steht das Bemühen, »die immer feingliedrigere Selektion von Risikogruppen auf ein ganz neues Niveau zu heben«, schreibt der Industrieversicherungsmakler Gossler, Gobert & Wolters in einer Analyse. Mit dem Ziel, gute - aus Versicherersicht profitable - Risikogruppen bevorzugt zeichnen zu können.
Im Ergebnis bedeutet dies, dass Kunden, die ihre Privatsphäre schützen wollen, über kurz oder lang höhere Tarife zahlen müssen, um die Telematik-Rabatte zu sponsern.
In gewisser Weise findet so eine Entsolidarisierung statt. Dabei ist die Gemeinschaft, die sich gegenseitig finanziellen Schutz bietet, der Grundgedanke jeder Versicherung. Der Solidaritätsgedanke wird nicht allein bei Sachversicherungen, sondern auch im Bereich »Leben« ausgehebelt. So sammelt Generali (früher unter anderem Volksfürsorge) Biodaten von Kunden. Angeblich um die Gesundheit zu fördern.
Der Versicherungsverband GDV hat in der Entwicklung des Unfallmeldesystems mit Bosch und IBM zusammengearbeitet. Die Branche will damit dem Staat zuvorkommen. Der Gesetzgeber schreibt vor, dass in zwei Jahren jeder neue Fahrzeugtyp mit einem vergleichbaren System namens E-Call ausgerüstet werden muss. Jetzt will sich die Assekuranz den Zugriff auf die Daten der Autofahrer rechtzeitig sichern - und Millionen Telematik-Verträge verkaufen.
* Die Kritik der Telematik-Tarife findet sich im »Zweiundzwanzigsten Datenschutz- und Informationsfreiheitsbericht des Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit Nordrhein-Westfalen« (im Internet). Beiträge zum Thema im nd-ratgeber vom 6. April und im Wirtschaftsteil vom 8. April 2016.
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