Olympia kommt ungelegen
Heute werden in Rio de Janeiro die Sommerspiele eröffnet, den Bewohnern der Stadt werden sie nur bedingt nützen
Die Brasilianer sind ein gläubiges Volk, weswegen es kaum verwundert, dass es in Rio de Janeiro so viele Feiertage gibt - bei all den Heiligen, die hier verehrt werden. Doch selbst ferienliebende Cariocas (Einwohner Rios) staunen über die viele Freizeit, die ihnen in der vorolympischen Woche zuteil wird: Am Mittwoch hatte Bürgermeister Eduardo Paes kurzerhand den Donnerstag zum Feiertag erklärt. Und da der Freitag, an dem im Maracana die Olympischen Sommerspiele eröffnet werden, bereits zum freien Tag bestimmt gewesen war, hat in der Millionenstadt dank der Spiele schon am Donnerstag das »feriadao« begonnen - das verlängerte Wochenende, wie es die Leute hier so lieben. »Ein Tag mehr, um Olympia zu entkommen«, freut sich Fernando Paulo Sousa, auf dem Heimweg in der Metrolinie 2. Der 55-jährige Angestellte, der in der benachbarten Stadt Niteroi lebt, sagt, er sei froh, wenn diese Spiele vorbei sind: »Wir brauchen keine Stadien, sondern funktionierende Schulen und Krankenhäuser.«
Das Weltspektakel Olympia ist gelandet in der brasilianischen Metropole am Zuckerhut. Und weil der Verkehr seit Öffnung der Olympiaspur am Mittwoch beinahe kollabierte - »O Globo« berichtete von 20 Kilometer Stau in der Innenstadt und 15 km/h Höchstgeschwindigkeit - haben die Stadtoberen kurzerhand die Ferien verlängert. Rio will gefallen.
Die Cidade Maravilhose (Wunderbare Stadt) fungierte in ihrer Geschichte schon häufiger als die Empfangsdame Brasiliens: Das Kaiserreich (seit 1822) und die Republik (ab 1892 bis 1960) hatten hier ihre Hauptstadt. Rio richtete die Südamerikameisterschaft 1919 aus, das erste internationale Sportevent in Brasilien, und die Weltausstellung 1922, ebenso die Fußballweltmeisterschaften 1954 und 2014 sowie 1992 und 2012 wichtige UN-Umweltkonferenzen.
Am Freitag beginnen die »Spiele der 31. Olympiade« mit der üblichen großen Eröffnungssause und dem großen Rätseln zuvor: Wer wird das Olympische Feuer entzünden? Immerhin: Nur etwa halb so viel wie in London 2012 wird die Zeremonie im Maracana kosten, die Party im Wembleystadion hatte 42 Millionen Euro verschlungen. Rio indes ist pleite und hat mit einer Reduzierung der Ausgaben reagiert, für ein Spektakel, das alle vier Jahre eine Milliarde Menschen im Fernsehen anschauen.
Seit Mittwoch ist die Olympische Fackel in der 11-Millionen-Einwohner-Stadt unterwegs. Nach einer 12 500 Kilometer langen Tour durch das riesige Land standen die letzten 90 Kilometer des Fackellaufs an, unter anderem für den Konvoi aus Sicherheitsfahrzeugen und die begleitenden Medien, die den Zug aus allen Perspektiven filmten. Militärhubschrauber hatten das Feuer aus dem antiken Hain des griechischen Olympia geleitet. In Rio waren Polizei-Helikopter bereits am Morgen über der Stadt gekreist: Bei einem Großeinsatz in der Favela Complexo de Alemao hatten 200 Polizisten versucht, 33 Haftbefehle zu vollstrecken. Bei den Schießereien starben drei Menschen, darunter ein Polizist.
Alltag in Rio de Janeiro: Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat zu den Spielen eine schockierende App herausgebracht, mit der man die täglichen Schießereien und ihre Opfer auf einer Karte erfassen kann. »Fogocruzado« heißt sie und weist die Schießereien für die vergangene Woche auf. Wahlweise kann man auch für 24 oder 48 Stunden suchen: mit Toten, ohne Tote. Ein schauriges Smartphone-Gimmick.
85 000 Soldaten und Polizisten sollen die Sicherheit bei den Olympischen Spielen garantieren, kein leichtes in einer Stadt, die in den ersten fünf Monaten des Jahres bereits 2470 Morde zu verzeichnen hatte. Dies bedeutet einen Anstieg von 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, in dem allerdings die Mordrate auf einem historischen Tiefststand gelegen hatte. Vor allem aber ist in Rio nun auch das Thema Terror auf die Tagesordnung gerutscht: Seit der sogenannte Islamische Staat Anschläge angedroht hat, wurden die Vorkehrungen noch einmal verschärft. Der britische »Daily Mirror« berichtete, der IS habe mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen in Rio gedroht. So hat die Internationale Atom-Energie-Organisation bestätigt, dass sie mit Strahlendetektoren und anderen Geräte in Rio vor Ort sein wird.
Auch die politische Großwetterlage für Rio könnte kaum schlechter als in diesem August sein: Der gleichnamige Bundesstaat hat vor wenigen Wochen seine Zahlungsunfähigkeit erklärt, die einstige linke Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei sieht im Präsidentenpalast in Brasilia ihrem Amtsenthebungsverfahren entgegen, während ihr Nachfolger Michel Temer mit seiner Regierung aus Neoliberalen und Konservativen in den Bereichen Telekommunikation und Energie privatisiert. Temer, der im Falle einer Amtsenthebung Roussefs bis 2018 regieren kann, wird am Freitag die Spiele eröffnen. Die heimische Wirtschaft befindet sich in einer tiefen Krise. Und in den Milliarden-Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Petrobras-Konzern sind Politiker nahezu aller wichtigen Parteien involviert.
Besonders gelegen kommt Olympia dieser Tage nicht - jenes gigantomanische Weltsportfest mit 10 500 Athletinnen und Athleten und noch mehr Journalisten, Kameraleuten, Technikern. Zumal es vor den Spielen für den Gastgeber zumeist reichlich Schelte gibt. Die Reporter aus aller Welt sind nicht erst seit Rio auf vorolympische Katastrophenmeldungen spezialisiert. Fast immer wirkten sich die Spiele nachteilig auf die Ausrichterstadt aus und die Medien berichteten davon: 2006 in Turin war es der Umweltskandal um ein gnadenlos zubetoniertes Tal, 2008 in Peking mannigfaltige Menschenrechtsverletzungen, 2010 die soziale Verdrängung der Geringverdiener in Vancouver, 2012 in London vor allem die Terrorangst, 2014 in Sotschi schließlich der üble Mix aus Gigantomanie, Korruption und Umweltsünden.
In Rio dominierte lange die Frage, ob Hunderte Zika-Erkrankte das Virus aus Rio in alle Welt verbreiten werden. Zudem wurden soziale Ungerechtigkeit, Sicherheit und Gewalt im fünftgrößten Land der Welt ausführlich thematisiert. Wie bei fast allen vorhergehenden Olympischen Spielen entzündete sich auch vor Rio 2016 die Frage, ob denn die Sportstätten und Unterkünfte allesamt fertig würden? Und die Detailfragen: Werden die Olympiabusse pünktlich sein? Scheinbar. Fährt die neue U-Bahn in den weitabgelegenen Olympia-Stadtteil Barra zuverlässig nach der Last-Minute-Eröffung am vergangenen Montag? Bisher ja. Findet noch wer Lecks in Duschkabinen im Media Village, die man per Smartphone fotografieren und live in die Welt twittern kann? Hier kann man nie sicher sein.
Die wahren Probleme der Stadt werden während der 16 Tage bis zur Abschlussfeier womöglich in den Hintergrund treten: die alltägliche Gewalt auf den Straßen, die Schere zwischen Arm und Reich, die unter der neuen Regierung deutlich größer zu werden droht. Immerhin werden etliche Bewohner der nördlich gelegenen Armenviertel von Rio profitieren, die neuen Schnellbustrassen können für manchen den Arbeitsweg von bis zu zwei Stunden (für eine Strecke) deutlich verkürzen. Auch die neue U-Bahn gen Westen wird manchem von Nutzen sein in einer Stadt, deren Gebiet sich auf einer Fläche von 1255 Quadratkilometern ausbreitet (etwa anderthalb mal so groß wie Berlin, aber vier Mal so viele Bewohner). Allerdings war der U-Bahn-Ausbau in die westliche Richtung aus stadtplanerischer Sicht viel weniger wichtig als etwa der ursprünglich vor der Fußball-WM 2014 angedachte Ausbau gen Niteroi, der die östlich gelegene Guanabara-Bucht überbrückt hätte, wo sich täglich Zehntausende Autos, Busse und Laster im Stau über eine 13 Kilometer lange Brücke wälzen.
Bei der Erschließung des neuen Olympiaviertels Barra di Tijuca hat Großgrundbesitzer Carlos Carvalho den großen Reibach gemacht: Der Besitzer von Carvalho Hosken, jenem Konzern, der Olympiapark und Olympisches Dorf errichtet hat, darf sich nach den Spielen an satten Gewinnen aus dem Verkauf der Hochhäuser erfreuen. Die neuen Wohnungen sind zudem »favelafrei«. In dem riesigen, weiten Areal im Westen gibt es keine der typischerweise an Berghängen gelegenen Armensiedlungen. Neu-Miami wird Barra wegen seiner Wolkenkratzer aus genannt, eine Wohlstandsgegend ohne störende Favela - in Beton gegossene Ausgrenzung.
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