Putzen gegen das Vergessen
Die Linksjugend Friedrichshain und Ferat Kocak (LINKE) luden ein, Stolpersteine und eine Gedenktafel zu säubern
Es ist Samstag zwölf Uhr, Mittagszeit. Vor den Cafés und Bistros in Kreuzberg sitzen die Menschen zusammen, trinken Kaffee, essen Baguettes, unterhalten sich im Sonnenschein, der von dunklen Wolken regelmäßig unterbrochen wird.
Auf das, was zu ihren Füßen liegt, achten die wenigsten. Doch ein Blick nach unten lohnt sich. Vor vielen Gebäuden wird in Kreuzberg, wie an unzähligen anderen Orten auch, mit sogenannten Stolpersteinen auf ein dunkles Stück deutscher Geschichte hingewiesen. Stolpersteine sind kleine, in den Boden eingelassene Messingplatten, quadratisch, nur einige Zentimeter lang. Sie erinnern an die Jüdinnen und Juden sowie andere verfolgte Menschen, die während des Nationalsozialismus deportiert und ermordet wurden. Die Stolpersteine sind vor ihren letzten Wohnorten platziert und sollen dazu anhalten, diese Menschen nicht zu vergessen.
»Gerade bei dem aktuellen Rechtsruck sollen die Menschen mitkriegen, wie präsent die Geschichte ist«, sagt Tarkan Sola und verweist auf Politikerinnen und Politiker der AfD. Tarkan ist 17 Jahre alt, er trifft sich an diesem Samstag mit zwei Freunden von der Linksjugend ['solid] Friedrichshain, um der Opfer zu gedenken. Dafür säubern sie die Gedenkplaketten: Wasser aus einer mitgebrachten Plastikflasche darüber gießen, Putzmittel mit Chlor dazu geben, schrubben, wieder Putzmittel dazu geben, wieder schrubben, mit Wasser abspülen.
So laufen die Jugendlichen einige Stunden über die Oranienstraße. Ein paar Passantinnen und Passanten schauen skeptisch auf die am Boden hockenden Freunde. Es scheint eine unbekannte Tradition zu sein, zu Ehren und Gedenken der Opfer des NS die Stolpersteine zu säubern. Eine Touristin aus Israel sitzt vor einem Stein, als die Freunde vor ihr Halt machen und anfangen zu schrubben. »Das ist ja großartig! Danke!«, ruft sie auf Englisch, nachdem die Jugendlichen ihr diesen »Brauch« erklärt hatten. Sie hatte die Stolpersteine zu ihren Füßen nicht einmal bemerkt.
Auch Ferat Kocak ist dabei. Der Direktkandidat für die LINKE im Neuköllner Süden hat die Aktion mitinitiiert. Er hofft, dass sie damit auch andere anregen, vergleichbare Aktionen zum Gedenken durchzuführen: »Gegen Nationalismus, Antisemitismus und Rechte aller Art.«
Der Weg der Aktivisten führt zum Kottbusser Tor, zur Gedenktafel für den türkischen Gewerkschafter Celalettin Kezim, der 1980 von Rechtsextremisten ermordet wurde. »Faschismus ist Faschismus«, sagt Mischa Bäumer, der damit auf den Punkt bringt, was sie denken: Es ist wichtig, aller Opfer faschistischer Gewalt zu gedenken - egal ob sie von türkischen Faschisten oder deutschen Nazis ausgegangen ist.
Cohn, Edelstein, Goldenthal, Lustig. Auschwitz, Bergen-Belsen, Treblinka. Die Namen der Toten und die Orte, an denen sie ermordet wurden, mahnen. Die Stolpersteine sorgen dafür, dass sie nicht in Vergessenheit geraten.
Plötzlich wird es an der Gedenktafel laut. Eine ältere Frau ist in Streit mit zwei Mädchen geraten, die sie offensichtlich nicht für deutsch hält. Sie ruft: »Ich will die hier nicht. Die sollen raus!« Tarkan stellt sie zur Rede. »Ach, die Linken«, sagt die Frau, dreht sich um und geht.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.