Warum Jenaer Wissenschaftler schlafende Pilzgene wecken
Rund 50 000 Exemplare umfasst die Mikroorganismen-Sammlung in der thüringischen Universitätsstadt - es ist die größte ihrer Art in Deutschland
Mit einem Ruck öffnet Kerstin Voigt den Deckel eines runden Metallbehälters. Weißer Nebel aus flüssigem Stickstoff quillt hervor. Mit einem dicken Handschuh, der bis über den Ellenbogen reicht, greift sie hinein und fischt ein Regal hervor, in dem auf vier Etagen Reagenzgläser aufgereiht sind. Darin verbirgt sich für die Wissenschaftler ein Schatz: Schimmelpilze und Bakterien. Seit rund 60 Jahren werden sie in Jena gesammelt, ein Teil davon lagert bei fast minus 200 Grad. Der Fundus hilft den Forschern, nicht nur Pilzerkrankungen zu erforschen. Sie suchen auch nach neuen Naturstoffen wie Antibiotika.
Rund 50 000 Exemplare umfasst die Sammlung. »Damit ist sie die größte ihrer Art in Deutschland«, sagt Voigt. In den 1950er Jahren hatten Forscher des Instituts für Mikrobiologie und experimentelle Therapie in Jena begonnen, Mikroorganismen zu sammeln, die für die Suche nach neuen Antibiotika infrage kamen. »Parallel dazu entstand am Institut für Botanik der Universität Jena eine Sammlung von Schimmelpilzen, weil durch die Ost-West-Teilung den Produzenten in der DDR der Zugang zu Edelpilzen für die Käseherstellung weggebrochen war.« 2010 wurden beide Sammlungen vereinigt und am heutigen Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie (Hans-Knöll-Institut) angegliedert.
Während Deutschland geteilt war, entstanden in Jena und in Braunschweig zwei große wissenschaftliche Sammlungen. Nach 1990 wurden auch ostdeutsche Sammlungen in die Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) in Braunschweig integriert, die zeitweise eine Außenstelle in Jena unterhielt. Die DSMZ ist die offizielle Sammlung, bei der Patent- und sogenannte Typenstämme - jene, an denen die Beschreibung einer Art festgemacht werden - hinterlegt werden. Die Jenaer Sammlung fungiert dagegen vor allem als Arbeitssammlung. Beide gehören zur Leibniz-Gemeinschaft.
Die DSMZ umfasst nach eigenen Angaben unter anderem mehr als 31 000 Bakterienstämme und Pilze. »Wir sind in erster Linie eine Servicesammlung«, erläutert der Kurator der Pilzsammlung, Andrey Yurkov. Das heißt, dass die Mikroorganismen nach internationalen Standards aufbewahrt und archiviert sind. Wissenschaftler aus der ganzen Welt können sie bei Bedarf bestellen. Jedes Jahr werden so etwa 40 000 Kulturen in rund 100 Länder verschickt, sagt DSMZ-Sprecher Christian Engel. Dazu werden die Stämme tiefgekühlt oder gefriergetrocknet aufbewahrt.
Zusammen mit Partnern forschen die Braunschweiger Wissenschaftler auch selbst mit Hilfe ihrer Sammlung. »Viel Potenzial sehen wir etwa in Bakteriophagen als Ergänzung zur Antibiotika-Therapie«, sagt Engel. Dabei handelt es sich um Viren, die nicht Menschen oder Tiere befallen, sondern ganz bestimmte Bakterien. Bakterien, die resistent gegen Antibiotika sind, könnte auf diese Weise der Garaus gemacht werden. Im Labor seien erste Erfolge erzielt worden.
Der Forschungskoordinator des Jenaer Leibniz-Instituts, Michael Ramm, erklärt: »Uns interessiert vor allem, welche Stoffe ein Mikroorganismus produziert und ob daraus neue Medikamente hergestellt werden können.« Dabei kann ein einzelner Pilz, der schon vor Jahren untersucht wurde, erneut in den Fokus geraten. »Es gibt oft Gene, die nicht aktiv sind«, erläutert Ramm. »Wir versuchen heute, diese schlafenden Gene aufzuwecken, damit die Organismen Substanzen bilden, auf die wir noch nicht gestoßen sind. Die Sammlung ist für diese Forschung eine hervorragende Quelle.«
Seit 2014 ist am Jenaer Institut auch das Nationale Referenzzentrum für invasive Pilzerkrankungen beim Menschen angesiedelt. Denn nicht nur Viren und Bakterien können schwere Krankheiten verursachen, sondern auch Pilze - etwa bei einer Sepsis. »Bundesweit senden uns Ärzte Blut-, Stuhl- oder Gewebeproben von Patienten«, erklärt Voigt. »Wir bestimmen die Erreger und geben Empfehlungen für die Therapie.« Der Nebeneffekt für die Sammlung: Sie erhält auf diese Weise immer neue Pilzstämme, die zusammen mit Daten der Patienten und Krankheitsgeschichten der Ausgangspunkt für neue medizinische Studien sind.
Kerstin Voigt hat inzwischen ihren Handschuh abgestreift und in einen Keller ins Nachbargebäude geführt. Hier ruht ein weiterer Teil der Sammlung - zwar nicht tiefgefroren, aber bei kühlen 10 Grad. So etwa der Getreideschädling Fusarium avenaceum, der rot im Reagenzglas leuchtet, und Penicillium notatum - ein Abkömmling jener Schimmelpilzart, an der 1928 das Penicillin entdeckt wurde.
»Denen knurrt hier der ›Magen‹«, erklärt Voigt. Denn anders als bei der Aufbewahrung in Tiefkühlcontainern sind die Pilze im Keller aktiv. Damit sie dennoch viele Jahre erhalten bleiben, soll ihr Stoffwechsel möglichst gering sein. Dafür sorgt neben der kühlen Temperatur eine magere Kost. Voigt: »Damit halten sie mindestens zehn Jahre und müssen erst dann neu vermehrt und eingelagert werden.« dpa/nd
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