»Bi uns is ahlns en bietje anners«

In Ostfriesland bestimmen die Kirchenglocken den Tagesablauf. Von Manfred Lädtke

  • Manfred Lädtke
  • Lesedauer: 5 Min.

Nirgendwo in Deutschland stehen so viele Kirchen auf engstem Raum wie an der Nordseeküste in der Krummhörn, der Region zwischen Emden und der Leybucht im Südwesten Ostfrieslands. Wo sich zwischen Deichen der Horizont in der grenzenlosen Weite verliert, müssen Kirchen nicht hoch sein. Oft thronen sie eingegrünt von mächtigen Eichen und Linden über uralten verträumten Dörfern.

Keine Hektik, kein Lärm, nicht Laptop oder Handy bestimmen das Tagesgeschehen in Ostfrieslands Dörfern, sondern die Glockenschläge der Kirchen über geduckten roten Backsteinhäusern. Meistens aber lassen eilige Reisende auf dem Weg an die Küste diese Inseln der Ruhe und Beschaulichkeit am Straßenrand links liegen. Wer jedoch den Fuß vom Gaspedal nimmt und nach Pilsum, Groothusen oder Rysum abzweigt, steht bald vor einem der mächtigen mittelalterlichen Gotteshäuser - und zunächst vor verschlossener Tür.

»De Sleudel haad de Pastor in Hus« (den Schlüssel hat der Pastor im Haus), ruft ein Pilsumer Dorfbewohner und stellt fest: »Bi uns is ahlns en bietje anners« (bei uns ist alles ein bisschen anders). Dann fügt er trocken hinzu, dass der Tee hier würziger schmecke, das Bier herber und die Luft salziger. »Ach jo«, lächelt der Mann, steigt auf sein Fahrrad und tippt an seine schwarze Skippermütze: Wenn beim Pastor zu ist, dann sei der Schlüssel beim Küster. Vielleicht auch beim Lehrer oder beim Malermeister.

Wie fast alle Kirchen in diesem Zipfel ganz links oben auf der Landkarte von Deutschland steht die stattliche Pilsumer Kreuzkirche in der Mitte einer Dorfwarft, dem Fluchthügel, wenn Ungemach drohte. Weil jedes Dorf seine eigene Kirche beanspruchte, boomte in der Region im 13. Jahrhundert der Kirchenbau. Zwar waren die ebenso starrköpfigen wie stolzen Friesen auf ihre Freiheit und Unabhängigkeit bedacht und lehnten Adelsherrschaft und weltlichen Schutz ab, auf himmlischen Beistand wollten sie aber nicht verzichten. Mit ihrem Kreuzgrundriss und massiven, eckigen Turm sei die Pilsumer Kirche der eindrucksvollste Sakralbau und das Wahrzeichen der Krummhörn, erklärt der Küster stolz, während er die schwere Holztür öffnet.

Das schlichte, schnörkellose Innere vermittelt den Eindruck eines Architekturmix’ aus Gotteshaus und Wehrturm. In den rustikalen Hügelkirchen suchten Menschen Zuflucht vor Sturm, Wasser und säbelrasselnden Piraten. Die Türme wiesen Gläubigen, Seefahrern sowie allerlei Gesindel den Weg, berichtet der Kirchendiener weiter.

Es ist Zeit für ein »Friesendinner«. Ländliche Spezialitäten und weithin unschlagbare, mit Spinat und Schafskäse gefüllte Teigwaren stehen in Pilsum gleich um die Ecke im »Alten Brauhaus« auf der Speisekarte. Dreißig Radlerminuten weiter wartet Groothusen, eines der ältesten Dörfer an der Waterkant. Das langgestreckte Kirchenschiff der protestantischen Glaubensburg ist weiß getüncht, das Graublau der Holzdecke korrespondiert mit dem matten Blaugrün der alten Bänke. Das Sonnenlicht, das durch die Kirchenfenster blinzelt, verleiht der auf Zweckmäßigkeit reduzierten Innenarchitektur etwas Heiter-Mediterranes.

Groothusen wurde als ehemaliger Handelsplatz nahe am Wasser gebaut. Wo gerade Touristen über knirschende Muschelwege spazieren und der Stille auf dem Kirchenhügel lauschen, wo ein Pärchen im hohen Gras versucht, mit den Augen vorüberfliegende mächtig getürmte Wolken am endlosen Himmel festzuhalten, klatschten vor einem halben Jahrtausend Nordseewellen an die Ufer. Manchmal gesellte sich wildes Seeräubergebrüll hinzu. Als einflussreiche Familien sich in die Haare gerieten, ruhten Schaufel und Kelle für den emsigen Kirchenbau. Die Herrschaften zogen sich zurück in eigene kleine Burgen.

Am Dorfrand wird in der hufeisenförmigen Osterburg Friesengeschichte lebendig. Von einem Burggraben eingekreist, befindet sich in der Mitte das schlichte vornehme Herrenhaus mit der zum Wohnraum umgebauten Scheune. Die Nachfahren einer vor über 300 Jahren eingewanderten Familie sind heute Landwirte ohne Landwirtschaft. Die Osterburg ist ihr Beruf. Nach dem Empfang in der großen, guten Stube führen die Besitzer ihre Gäste durch ein Zimmer mit goldfarbenen Ledertapeten, einen prachtvollen Speisesaal, die stattliche Bibliothek und natürlich durch die Ahnengalerie.

Im vielleicht typischsten Friesendorf, dem »runden Rysum«, herrscht Kreisverkehr. Die Gassen liegen wie Ringe um die von Baumriesen beschützte backsteinrote Kirche. Karg und spärlich ist auch das Innenleben dieser Wehrkirche. Keine Inszenierung von christlichem Pomp und kirchlicher Völlerei. Beim Bildersturm, der in der Reformationszeit gnadenlos durch die prunkvoll dekorierten einst katholischen Kirchen und Klöster fegte, verschonten die Friesen nur kostbare Altäre, Taufbecken und geschnitzte Altäre. Aus mehr als 300 Orgeln hatten einst himmlische Klänge über das Land im hohen Norden getönt, das einmal zu den reichsten Orgellandschaften der Welt zählte. Heute jubilieren hinterm Deich gerade mal noch sechs gotische Instrumente, das älteste davon in Rysum. Einer Chronik zufolge hatte die Kirchengemeinde vor 500 Jahren die Originalorgel mit »ere vette beeste« (ihrem fetten Vieh) bezahlt.

Gleich beginnt in der Kirche wieder ein Orgelkonzert. Zeit genug zu überlegen, ob man das Kirchen-Hopping unter schattigen Linden beenden oder nach einer Rast weiter auf der platten Kirchenroute nach Jemmelt, Uttum oder Loquard radeln möchte. Es ist 15 Uhr. Im »Landhaus« hinter der Mühle fragt die Bedienung: »Einen Tee?« Klar. Die »Teetied« (Teezeit) auszuschlagen, wäre die größte Torheit, die man in Ostfriesland begehen kann. Und somit ist auch die Entscheidung gefallen: Schluss für heute, wir bleiben!

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