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Am letzten Strand

Martin Leidenfrost suchte auf einer italienischen Insel die Spuren der Idee eines geeinten, sozialistischen Europas

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 3 Min.

Seit die EU von entsolidarisierenden Krisen auseinandergerissen wird, stieg in mir eine Sehnsucht nach dem Gnadenort des sortenreinen Europäismus auf. »Das Manifest von Ventotene« war ein visionärer Vorläufer der europäischen Integration, immer noch pilgern die »Jungen Europäischen Föderalisten« auf die vor Latium gelegene Insel. So schiffte auch ich mich ein. Den Text hatte ich dabei. Ich meinte, irgendwer sollte jenes Manifest mal gelesen haben.

Das Meer war blau und Ventotene empfing mich als Dorfidyll gewundener Gassen. Die vulkanischen Gesteinsformen am Hafen muteten unnatürlich an, wie aus dunkelgrauem Styropor gefräst. Kleine Hotels und Trattorias, ein Schullandheim, Taucher. Der Sandstrand war grau. Nachdem schon Kaiser Augustus seine Tochter Julia hierher verbannt hatte, internierte das Mussolini-Regime auf Ventotene bis zu 800 Antifaschisten, auf einem Zehntel der zwei Quadratkilometer großen Insel. Vier von ihnen schrieben 1941 das Manifest. Der Hauptautor war Altiero Spinelli (1907-1986). Der antisowjetische Eurokommunist war »Konstitutionalist« einer europäischen Demokratie, im Gegensatz zu den »Funktionalisten« um Jean Monnet, die ihre Methode der europäischen Einigung gegen Spinelli durchsetzten. Spinelli war von 1970 bis 1976 EG-Kommissar und dann bis 1986 Europa-Abgeordneter. Einer der beiden Hauptflügel des Brüsseler EU-Parlaments ist nach ihm benannt: ASP.

Der junge Kulturgemeinderat von Ventotene, der das Andenken pflegt, war verreist, vermittelte mir aber einen Zeitzeugen. Auf der zentralen Piazza Castello wartend, bewunderte ich die Work Life Balance des Buchhändlers. In espressodurchsüffelten Mikroschritten räumte er seine Ware heraus und hinein, vier Mal am Tag. Sein Laden war ein Kleinod schöner linker Bücher, mit Abteilungen für Südamerika und Berlusconi-Verhöhnungen sowie mit Ventotene-Spinelli-Büchlein, die er selbst unter der Marke »ultima spiaggia« herausgab, »Der letzte Strand.«

Aniello Gargiulo, 90, war klein und kam dynamischen Schrittes auf mich zu. Der Opa des Kulturgemeinderates hatte schon mancher Zeitung von seinen jugendlichen Begegnungen mit Spinelli erzählt, »er baute Gemüse an, züchtete Karnickel, reparierte Uhren und meditierte«. Die Europavision des Greises war noch nirgends vorgekommen. »Das mit Europa war ganz gut«, meinte Opa Aniello auf Nachfrage, »mit den Migranten nun aber nicht mehr, die darf man doch nicht alle reinlassen.« Auf Ventotene selbst gebe es zwar keine Flüchtlinge, aber unter den 746 Einwohnern seien »15 Rumänen«, eingeheiratete Gastarbeiterinnen, problemlos. »15!«, wiederholte er, als würde er sie täglich zählen. Spinellis junger Freund wählte im Alter Berlusconi.

Ich hatte mich von dem animiert Plaudernden schon verabschiedet, da fragte er mich: »Wo ist eigentlich mein Enkel?« - »In Mailand, mailte er mir.« Der Alte hob triumphierend den Zeigefinger: »Aha! Und seine Mutter glaubt, er wäre in Rom!« Bei der Vorstellung, einem Doppelleben des Enkels auf der Spur zu sein, schossen dem agilen 90-Jährigen weitere Lebenssäfte ein.

»Ventotene, agosto 1941«, ich versenkte mich in das Manifest. Es las sich schön sozialistisch, gegen »Monopolkapitalismus, große Gutsbesitzer und andere kirchliche Hierarchien«, gegen »parasitäre«, »konservative«, »reaktionäre« Kräfte. Gefordert wurde »ein rein laizistischer Charakter des Staates«. Man müsse »die kurze intensive Zeitspanne allgemeiner Krise« nach dem Krieg nutzen, um eine europäische Föderation mit gemeinsamer Armee zu gründen. »Das ist die definitive Abschaffung der Teilung Europas in souveräne Nationalstaaten«. - »Die europäische Revolution muss sozialistisch sein, um unseren Bedürfnissen gerecht zu werden; sie muss sich für die Emanzipation der Arbeiterklasse und die Schaffung menschlicherer Lebensbedingungen einsetzen.« - »Wir glauben an die spontane Generation der Ereignisse und Institutionen, an die absolute Qualität der Impulse, die von unten kommen.« - »Dies wird die Stunde neuer Menschen, der Bewegung für ein freies, einiges Europa.«

Es wurde Abend. Gleichmütig räumte der Buchhändler seine Jutetüten hinein, bedruckt mit Gramscis Pamphlet gegen die Gleichgültigkeit. Von der verlassenen Kerkerinsel Santo Stefano, auf der eine Eliteschule für Eurokraten geplant ist, leuchtete kreuzförmig ein Photovoltaik-Licht. Und Opa Aniello, den hielt die Neugierde jung.

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