»Die lokale Polizei war zweifellos am Verbrechen beteiligt«
Claudia Paz y Paz über die internationalen Ermittlungen zum Fall der 43 verschwundenen mexikanischen Studenten
In ihrem Abschlussbericht haben Sie zusammen mit ihren Kollegen der internationalen Expertenkommission GIEI die offizielle Version der mexikanischen Staatsanwaltschaft zum Tathergang zurückgewiesen, laut der die 43 Studenten auf einer Müllkippe in der Ortschaft Cocula verbrannt wurden. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Wir zeigen, dass es keine wissenschaftlichen Belege für die Theorie gibt, dass die Studenten auf der Müllkippe von Cocula verbrannt wurden. Diese Version des Tathergangs stützt sich auf die Aussagen der mutmaßlichen Täter - fünf mutmaßliche Mitglieder der kriminellen Vereinigung Guerreros Unidos, bei denen es starke Anzeichen dafür gibt, dass sie gefoltert wurden. Deshalb haben wir die mexikanische Staatsanwaltschaft darum gebeten, die Untersuchungen und die Suche nach den 43 Studenten fortzusetzen, da ihr Aufenthaltsort nach wie vor ungeklärt ist.
Die mexikanische Regierung scheint allerdings ihrerseits die Ergebnisse des Abschlussberichts der GIEI abzulehnen. Haben Sie eine offizielle Stellungnahme der mexikanischen Behörden bekommen?
Ich habe keine Informationen darüber - weder aus den Medien noch von offizieller Seite - dass die mexikanische Regierung den Bericht ablehnt. Was uns gesagt wurde, ist, dass sie sich bedanken und dass sie unsere Ergebnisse und Empfehlungen aufnehmen werden. Was fehlt, sind Taten, die diesen Worten folgen. Einerseits werden unsere Ergebnisse angenommen, andererseits gibt es Bestrebungen, immer wieder zur offiziellen Version des Tathergangs zurückzukehren.
Claudia Paz y Paz ist ehemalige Generalstaatsanwältin von Guatemala. Sie war zuletzt Mitglied der internationalen Expertenkommission GIEI zu Ayotzinapa, die das Verbrechen an 43 mexikanischen Studenten im September 2014 aufklären sollte. Die interamerikanischen Menschenrechtskommission CIDH hat einem Folgemechanismus zur GIEI für weitere Untersuchungen zum Fall der 43 Studenten zugestimmt.
Mittlerweile sind fast zwei Jahre seit der Tat vergangen. Sind die mexikanischen Behörden nicht in der Lage, den Fall aufzuklären?
Wenn sie den Willen hätten, würden die Untersuchungen vorangehen. Dann hätten sie mit uns zusammengearbeitet und die Maßnahmen ergriffen, die wir vorgeschlagen hatten. Seit Januar 2016 haben wir erlebt, wie Dinge, die uns vorher direkt beantwortet wurden, sich immer mehr verzögerten. Orte, zu denen wir vorher noch Zugang hatten, konnten wir plötzlich nicht mehr betreten. Wir sind uns sicher: Wenn es den Willen gäbe, könnte der Fall aufgeklärt werden und wir wüssten, wo sich die Studenten befinden.
In ihrem Abschlussbericht geben Sie zahlreiche Empfehlungen ab. Welches sind die Wichtigsten?
Es ist wichtig, dass geklärt wird, ob die Untersuchungen behindert wurden. Ebenso müssen die 17 Fälle mutmaßlicher Täter untersucht werden, in denen es klare Anzeichen für Folter gibt, um festzustellen, ob es zu Folter gekommen ist und wer die Verantwortlichen sind. Ein weiterer Punkt sind die Ermittlungen zum möglichen Transport von Drogen in dem Bus, in dem die Studenten reisten, als Tatmotiv - diese Spur ist bisher nicht Teil der offiziellen Untersuchungen. Außerdem muss überprüft werden, welche Verantwortung die staatlichen Behörden am Tathergang tragen, weil es Hinweise gibt, die auf eine mögliche Beteiligung der mexikanischen Landes- und Bundespolizei in der Tatnacht hindeuten.
Wie geht es nun weiter?
Unser Mandat ist am 30. April 2016 ausgelaufen, aber die Maßnahmen zum Schutz der 43 verschwunden gelassenen Studenten sind es nicht. Diese können weiter angewandt werden, aber es ist noch nicht definiert worden, in welchem Rahmen das geschehen könnte.
Gab es äußeren Druck und Bedrohungen, die Ihnen die Arbeit erschwert haben?
Seit Ende vergangenen Jahres gab es eine Schmutzkampagne gegen uns. Wir haben das nicht persönlich genommen. Schon in unserem ersten Bericht waren wir zu sehr klaren Ergebnissen gekommen, die schwer zu widerlegen waren. Anstatt die Ergebnisse anzugreifen, wurde also versucht, die Kommission zu diskreditieren.
Das Verbrechen an den 43 Studenten hat vor knapp zwei Jahren weltweit ein ungeheures Echo ausgelöst. Warum ist Ayotzinapa zu einem solch emblematischen Fall für Mexiko geworden?
Der Fall zeigt, dass es eine Verbindung gibt zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren. Es gibt keinen Zweifel, dass die lokale Polizei von Iguala und Cocula an der Tat beteiligt war. Deshalb handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Verbrechen, sondern um eine Verletzung von Menschenrechten und um einen Fall gewaltsamen Verschwindenlassens. Er zeigt, dass es keine klare Trennung gibt zwischen den staatlichen Behörden und der organisierten Kriminalität.
Warum ist die Aufklärung des Falles so wichtig?
Solange Straflosigkeit besteht, wird sich die Gewaltspirale weiter drehen. Erst durch die Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen und die Verurteilung der Verantwortlichen kann die Justiz auch ihre präventive Wirkung entfalten und dafür sorgen, dass es in Zukunft weniger dieser Fälle gibt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.