»Die Logik der Austeritätspolitik steht in Frage«

Momentum-Sprecher Schneider im Gespräch über die Entwicklung der Labour-Partei und die Chancen von Jeremy Corbyn, wieder Vorsitzender zu werden

  • Thomas Kachel
  • Lesedauer: 4 Min.

In Großbritannien ist dieser Sommer in politischer Hinsicht ein heißer, das trifft ganz besonders auf die Labour Party zu: Nach nicht einmal einem Jahr im Amt entzog die Mehrheit der Unterhausfraktion dem Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn das Vertrauen. Er muss sich bis 21. September einer Urwahl durch die Mitglieder der Partei stellen. Innerhalb von Labour gibt es eine neue Größe, der Corbyns erster Sieg entscheidend mitzuverdanken ist und die auch jetzt eine gewichtige Rolle: die Bewegung »Momentum«. In London unterhielt sich Thomas Kachel für »nd« mit dem Sprecher der linken Plattform James Schneider.

Wie erklären Sie sich selbst das Phänomen Momentum und seinen Erfolg?
Momentum ist im innerparteilichen Wahlkampf gegründet worden – aus der spontanen Unterstützung vieler Labourmitglieder und Parteiloser für die Kandidatur von Jeremy Corbyn. Wir wollten die vielen neuen Aktiven bei der Partei halten, aber das Ziel ist natürlich auch weitergehend, nämlich die politische Großwetterlage in der britischen Gesellschaft zu verändern. Viele der neuen Mitglieder der Partei sind ungeduldig und wollen vor Ort Politik machen, ohne jedes Mal durch die Parteihierarchie gehen zu müssen.
Jetzt, ein Jahr nach Gründung von Momentum, können wir sagen: Diese Bewegung hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Mitgliederschaft innerhalb von 15 Monaten von nicht mal 200.000 auf über 500.000 Menschen gewachsen ist. Man muss das vergleichen mit anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa, die in jüngster Vergangenheit allesamt an Popularität und Mitgliedern verloren haben.

James Schneider

James Schneider ist Sprecher der linken britischen Organisation “Momentum” und gilt als das Gesicht der Unterstützerbewegung für Jeremy Corbyn. Der 28-Jährige studierte an der Universität Oxford und war mehrere Jahre Mitglied der Redaktionen von Think Africa Press und des New African Magazine. Im Oktober 2015 gab Schneider zu, bei den Unterhauswahlen im Mai die Grüne Partei gewählt zu haben.

Der Vize-Chef von Labour, Tom Watson, macht seit Kurzem die Bewegung dafür verantwortlich, dass »Trotzkisten« vergangener Tage wieder in die Partei drängen würden. Hat er Recht?
Wir können das nicht nachvollziehen. Wie soll eine Gruppierung wie Momentum mit ihren 17.000 Mitgliedern, die ganz überwiegend unter 30 sind, eine solche trotzkistische Unterwanderung bewerkstelligen? Diese Unterstellungen sollen ablenken von der Dimension, in der wir jeden Tag neue Mitglieder aus der gesamten Gesellschaft gewinnen.

Corbyns Kritiker aus der Fraktion - beleibe nicht nur Blair-Anhänger - kritisieren den Parteivorsitzenden dafür, zu wenige konkrete politische Vorschläge zu machen. Warum sehen Sie das anders?
Diese Vorschläge gibt es, wie etwa die Einrichtung einer Investmentbank für öffentliche Aufgaben. Erst vor zwei Wochen hat Jeremy sein Zehn-Punkte-Programm mit weiteren Forderungen vorgestellt. Wir sind aber auch innerhalb der Partei dabei, den Politikstil zu reformieren: Während bei New Labour alles schnell von oben durchgestellt wurde, werden wir die politischen Eckpunkte unseres Oppositionsprogramms erst durch den Parteitag bestätigen lassen. Die wichtigste Entwicklung seit Corbyns Amtsantritt ist aber die, dass die Logik der Austeritätspolitik in Frage gestellt und eine Debatte über eine staatsinterventionistische Wirtschaftspolitik wieder möglich ist.

Dennoch scheint es, als ob Corbyn mit seinen konkreten Positionen nicht durchdringt.
Das bringt uns zu den britischen Medien. Es gibt hier zwei Lager. Das erste besteht aus Zeitungen von drei Medienmogulen. Es ist wenig überraschend, dass diese Jeremys Plattform abscheulich finden. Leider ist seit geraumer Zeit auch die linksliberale Presse zu einer unsachlichen und negativen Berichterstattung übergegangen, vor allem durch Kommentatoren, die sich mit dem New-Labour-Projekt arrangiert hatten. Unlängst haben die Studien von zwei Londoner Universitäten die strukturelle Negativität bei Berichten über Jeremy Corbyn nachgewiesen. Danach wird seinen Gegnern in Zeitungen und Fernsehen doppelt so viel Sendezeit gegeben wie Team Corbyn.

Auch Antisemitismusvorwürfe gegen verschiedene Labour-Mitglieder haben Corbyn in den vergangenen Wochen schwer zugesetzt.
Die Labour Party hat kein Problem mit Antisemitismus, das größer wäre als das generelle Problem in der gesamten britischen Gesellschaft. Es gab Debatten um Äußerungen bereits lange vor Jeremys Amtsübernahme, einige danach. Ich selbst habe einen jüdischen Hintergrund und bin über solche Vorfälle nicht glücklich, aber ihre Zahl ist sehr klein. Jeremy hat sich sofort, als das Thema aufkam, um einen unabhängigen Bericht durch die allseits respektierte Juristin Shami Chakrabarti bemüht, die zu demselben Schluss kommt. Nein, diese Vorfälle sind in der Presse zynisch aufgeblasen und auch innerparteilich instrumentalisiert worden. Das ist etwas, das ich selbst verletzend finde.

Wird am 24. September also der alte Labour-Vorsitzende auch der neue sein?
Daran habe ich keinen Zweifel. Schon jetzt haben sich von Wahlkreisverbänden 255 für Corbyn ausgesprochen, für Owen Smith nur 47.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.