Einig im Unwillen
Karl Kopp über zwei Lager unter den EU-Ländern, die nur scheinbar verschiedene Positionen im Umgang mit Flüchtlingen vertreten
Im europäischen Klub der Unwilligen bei der Flüchtlingsaufnahme tobt ein Kampf zweier Linien: Die zeitweise Willigen, wie die Merkel-Regierung, die EU-Kommission und ein paar andere, setzen alles auf den Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Ankara soll die Ägäis weiterhin abriegeln und möglichst alle Flüchtlinge wieder zurücknehmen.
Die schon immer Unwilligen, die Orbans in Europa mit ihrem jung-dynamischen Wortführer, dem österreichischen Außenminister Sebastian Kurz, wollen die Abwehr alleine organisieren. Kurz veranlasste die Schließung der Balkanroute und nimmt die Destabilisierung Griechenlands billigend in Kauf. Sein Vorbild ist das menschenverachtende australische Modell: »Wer illegal nach Europa reist, muss auf Inseln an der Außengrenze versorgt und dann in Zentren sicherer Drittstaaten zurückgeschickt werden.«
Beide Flüchtlingsbekämpfungsstrategien verfolgen dasselbe Ziel: Fluchtwege versperren und unter dem Motto »Augen aus dem Sinn« Fliehende in Transitstaaten vor den Toren Europas zwangsweise zu halten oder sie zurückzuschaffen. Menschenrechte und Flüchtlingsschutz spielen dabei keine Rolle. Kurz nennt es Mut haben, die »hässlichen Bilder« selbst zu produzieren, anstatt an Erdogan zu delegieren.
Über 3100 Tote im Mittelmeer in den ersten sieben Monaten des Jahres, knapp 60.000 gestrandete Flüchtlinge in Griechenland, ein kollabierendes Aufnahmesystem in Italien, produzieren jeden Tag diese hässlichen Bilder einer gnadenlosen europäischen Flüchtlingspolitik.
Für die türkische Gendarmenfunktion ignorieren die EU und die Bundesregierung den Krieg im kurdischen Osten, die systematische Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten in der Türkei. Egal was an »Säuberungsaktionen« nach dem Putschversuch in der Türkei geschieht, für Flüchtlinge sei weiterhin alles sicher. Elend, Rechtlosigkeit, völkerrechtswidrige Zurückweisungen und Abschiebungen ins syrische Kriegsgebiet sind zwar umfassend dokumentiert, ändern aber nichts an der irrigen Haltung, die Türkei als »sicheren Drittstaat« für Schutzsuchende zu qualifizieren. Die EU-Kommission hat sogar noch am 13. Juli 2016 einen Verordnungsvorschlag veröffentlicht, in dem die Türkei in die künftige EU-Liste der sogenannten sicheren Herkunftsländer aufgenommen werden soll.
Umgesetzt wurden von den Vereinbarungen im Deal vor allem die Abschottungsmaßnahmen – nicht nur die Ägäis, sondern auch die türkischen Landgrenzen zu Griechenland und Bulgarien wurden weiter abgeriegelt.
Was aber zum Leidwesen Brüssels bis jetzt nicht funktioniert, ist Schutzsuchende im Schnellverfahren aus Griechenland abzuschieben. Anwältinnen von Pro Asyl gelang es, alle bisherigen Abschiebebeschlüsse wieder kassieren zu lassen.
Erst die Drohung aus dem Präsidentenpalast in Ankara, den Deal platzen zu lassen, falls die Visumsfreiheit für türkische Staatsangehörige nicht komme, hat in den vergangenen Tagen die Hauptopfer des Deals in Erinnerung gerufen: 10.500 Flüchtlinge, darunter fast 4000 Kinder sitzen seit dem Inkrafttreten des Deals, am 20. März, auf den Ägaisinseln fest – unter erbärmlichen Bedingungen.
Mangelnde Versorgung mit Nahrung, überfüllte Haftlager, keine vernünftige medizinische Behandlung kennzeichnen die dramatische Situation. Statt zynische Debatten über »Plan A«- oder »Plan B«-Szenarien zu führen, fordert Pro Asyl daher den Fokus auf Menschenrechte und Flüchtlingsschutz zu legen.
Das bedeutet, sich endlich vom schäbigen Deal zu verabschieden. Das heißt nicht, dass finanzielle Hilfen für Flüchtlinge in Ländern wie der Türkei eingestellt werden sollten – im Gegenteil, die Unterstützung der Hauptaufnahmeländer muss massiv ausgeweitet werden. Diese muss allerdings mit einem signifikanten Resettlement-Programm und Eröffnung legaler und gefahrenfreier Wege für Schutzsuchende nach Europa gepaart werden. Das menschenverachtende Experiment auf den griechischen Inseln muss unverzüglich beendet werden. Flüchtlingen in Griechenland muss der Zugang zu menschenwürdiger Unterbringung und zügiger Weiterreise zu ihren Familien in der EU eröffnet werden.
Mittlerweile formuliert auch die Bundesregierung ihr Alternative zum Deal, die sich in nichts vom dem Kurz›schen Ansatz unterscheidet: In einem internen Papier heißt es martialisch: »Vollumfängliche Kooperation Griechenlands ist sicherzustellen, auch unter Anwendung finanziellen Drucks. Ansonsten droht Rückzug auf eine erst im Westbalkan haltbare Grenzlinie.«
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