Rituale der Distanz
Ist Höflichkeit von gestern? Ein äthiopischer Prinz erklärt, was Kultur im Grunde ausmacht
Erstaunlicherweise ist man in einer Stadt wie Berlin, die manche bereits für einen Moloch halten, oft immer noch freundlich zueinander. Jedenfalls relativ. Man sagt in der S-Bahn Bitte und Danke, wenn man sich zu einem freien Sitzplatz hindurchschiebt, man hält Schlange stehend Abstand und drängelt nicht an der Kasse in der Kaufhalle oder beim Einsteigen in den Bus. Immerhin. In anderen Ländern geht es rustikaler zu.
Trotzdem ändert sich gerade etwas. Ein Fahrradfahrer, dem man, weil er auf dem Bürgersteig dicht an einem vorbeirast, ein »Vorsicht« hinterherruft, brüllt »Arschloch« zurück. Eine Frau bekommt bei ähnlicher Gelegenheit ein »Du dumme Fotze« zu hören. Meist sind es junge Männer voller Aggressionen, bei denen man fast schon froh ist, wenn sie sich nur verbal gehen lassen und nicht noch handgreiflich werden.
Woher kommt dieser Verlust an Umgangsformen? Liegt es daran, dass in Internetchatforen Sozialisierte immer weniger Umstände machen, wenn es darum geht, eine wie auch immer geartete Meinung in Umlauf zu bringen? Das wohl auch, aber die Ursachen liegen wohl tiefer.
Vielleicht ist einfach zu viel falsche Freundlichkeit in der Welt - die smarte Glattheit der Verkäufer, hinter der sich doch wieder nur kalte Geringschätzung des Einzelnen verbirgt? Gilt in der Umkehrung: Wer authentisch sein will, ist unhöflich?
Zwei Bücher versuchen Antworten zu geben auf jenes doppeldeutige Thema Höflichkeit, das immer auch Seismograf ist für gesellschaftliche Atmosphären. In »Höflichkeit - Vom Wert einer wertlosen Tugend« macht Rainer Erlinger sofort klar, dass Höflichkeit nicht gleichbedeutend mit Etikette ist, sondern etwas mit Achtung vor anderen Menschen zu tun hat. Achtsamkeit im Umgang, könnte man hinzufügen. »Manieren« nannte Asfa-Wossen Asserate sein Buch. »Manieren«. Der Großneffe des äthiopischen Kaisers Haile Selassie, der mit deutschem Kindermädchen und in englischen Internaten aufwuchs, bis aus dem privilegierten Leben plötzlich die Fremdheit des Exils wurde, notiert: »Manieren haben autoritären Charakter.« Im guten wie im schlechten Sinne.
Dieser 1948 in Addis Abeba geborene Prinz ist ein Phänomen. Welch innige Verbindung zur europäischen Kultur zeigt sich in seiner Biografie. Asserate beschwört den Bildungsbürger - aber in der Art dieser Beschwörung spiegeln sich auch die besten Möglichkeiten Afrikas, an die er nicht aufhören mag zu glauben. »Manieren« ist ein originelles, weil vorurteilsfreies Buch über das, was Kultur im Grunde ausmacht: eine Vornehmheit der Gesinnung, die nicht für sich Respekt fordert, sondern diesen zuerst anderen entgegenbringt. Echte Höflichkeit ist immer gegenseitig. Im besten Falle wird aus der zivilisierten Umgangsform Hochschätzung oder Freundschaft. Aber das muss nicht einmal sein.
Es gibt Platz in einem Land für sehr verschiedene Weltsichten, wenn diese darauf verzichten zu missionieren. Aber eben nur dann. Kritisieren jedoch ist etwas anderes als missionieren. Beim Missionieren streitet man für den vermeintlich wahren Glauben. Kritik hinterfragt immer wieder die vorgeblich fraglosen Gewissheiten, das angemaßte Bescheidwissen. Die Höflichkeit des Aufklärers: eine skeptische Rationalität, auf der Basis von Sokrates »Ich weiß, dass ich nichts weiß«.
Allerdings sind die herrschenden Höflichkeitskalküle alles andere als menschenfreundlich. In Erlingers Buch »Höflichkeit« findet sich das Beispiel aus dem Film »Up in the Air«. Da spielt George Clooney einen Entlassungsspezialisten. Firmen buchen ihn, um überflüssiges Personal möglich reibungslos loszuwerden. Er erledigt seinen Job mit professioneller Höflichkeit, mit der er die von der brutalen Nachricht bestürzten Mitarbeiter überrumpelt. Mit ein paar unverbindlichen Floskeln werden Biografien beerdigt. Das ist der subversive Stachel, der in aller aufrechterhaltenen äußeren Form darauf wartet, endlich die Wahrheit herauszuschreien.
Also was tun, sich mäßigen oder maßlos sein, einer ungerechten Umwelt gegenüber? Es ist eine Krux mit der Höflichkeit, mit den guten Manieren überhaupt. Manchmal möchte man sich vergessen. Aber was wäre das Leben ohne jene quasi demokratische Höflichkeit, die die einstige höfische Aufmerksamkeit aller einem Fürsten gegenüber nun jedem Menschen, unabhängig von seinem Stand, entgegenbringt?
Der äthiopische Prinz erklärt, er lese keine Benimmbücher anderer Autoren. Aber mit einem dieser Bücher hat er dennoch eine Ausnahme gemacht: Karl Kleinschmidts »Keine Angst vor guten Sitten«. Der Schweriner Domprediger und religiöse Sozialist schrieb dieses Buch 1957 und es hatte ein zutiefst aufklärerischen Anspruch. Wenn der Kommunismus die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft bedeuten soll, dann muss er jene Alltagskultur bewahren, die der Kapitalismus selbst als erstes zerstört. Das kann er aber nicht, wenn der Proletkult blüht und schlechtes Benehmen sich fortschrittlich gibt. Da sind wir schnell wieder in der Gegenwart, umstellt von falscher Höflichkeit, die das Gegenteil von herzlich ist.
Warum aber lohnt es sich dennoch für die Höflichkeit, für Umgangsformen zu streiten? Eben weil sie dem Einzelnen einen Schutzraum sichern, zuerst den seiner Privatheit, aber nicht nur. Denn der Individualismus dieser Gesellschaft ist zuerst Konsumideologie, die Individualität verwandelt sich in das Versprechen einer Marke. Auch die joviale Turnschuhegalität in Firmen, die »flache Hierarchien« pflegen, ist, wo es um knallharte Verkaufsinteressen geht, eine Lüge. Da kann man sich gegenseitig noch penetrant mit Vornamen und vertraulichem Du ansprechen, wer hier im Zweifelsfalle wen rausschmeißt, ist dennoch klar definiert. Davor schützt das Abstand schaffende Sie zwar nicht, aber es garantiert zumindest einen Raum, in dem mit der Distanz auch das Bewusstsein der gesellschaftlichen Rollenverteilung wach bleibt.
Auch darüber kann man bei Asserate Bedenkenswertes finden, wobei er oft einen großen kulturellen Bogen schlägt. Das Du ist nicht selten eine Waffe gegen die Autonomie des Einzelnen: Neuerdings wollten große Firmen von einem Gruppen-»Du« profitieren, um ihre Abteilungen zu »Kampfgemeinschaften zusammenzuschmieden. Wer in solchen Zusammenhängen den Charakter besitzt, zu widersprechen, wird leicht zu einem Märtyrer der Zivilcourage.« Firmenpsychologen seien »daran erinnert, dass bei den großen Mönchsorden ... lebenslang beim ›Sie‹ geblieben wird, auch wenn man sich vierzig Jahre lang täglich begegnete.«
Rainer Erlinger räumt in diesem Zusammenhang ein Missverständnis aus: »Nur nebenbei bemerkt, entspricht die Standardform im Englischen, das ›you‹, nicht dem ›du‹, sondern dem ›Sie‹, sodass sich im Englischen nicht alle duzen, sondern siezen.« Das ursprüngliche Wort für »du«, das »thou« finde sich inzwischen nur noch bei Shakespeare.
Hier handelt es sich also nicht um Handlungsanleitung gebende Bücher, ob man Spargel oder Kartoffeln auf dem Teller nun mit dem Messer schneiden darf oder nicht, darin muss sich jeder selbst zu einer Entscheidung ermannen. Aber beide Autoren machen etwas viel Lesenswerteres: sie zeigen die Höflichkeits- als eine Kulturgeschichte, die etwas über den Grad unserer Zivilisiertheit offenbart.
Der Weltbürger Asserate, der es wissen muss, nennt Deutschland ein Werktagsland und England ein Sonntagsland. Das sagt einiges über herrschende Umgangsformen, das Understatement wurde schließlich von den Angelsachsen erfunden. Manchmal gerät allerdings auch dieses auf Abwege, wie er im Kapitel »Betrunken sein« notiert. Da geht um eine Gesellschaft bei der Herzogin von Windsor, die die Angewohnheit hatte, ihren Dienern kleine Zettel mit Anweisungen zuzustecken. Als sie bemerkt, dass er einer der bedienenden Kellner nicht mehr gerade stehen kann, schreibt sie ihm die Botschaft: »Sie sind vollkommen betrunken - Verschwinden Sie augenblicklich!« Der berauschte Kellner hat jedoch eine hinreißende Eingebung, er steckt den Zettel einem der Gäste an der Tafel zu. Dieser liest errötend, erhebt sich sofort und verlässt, Entschuldigungen murmelnd, eilends die Tafel. Wo Höflichkeit bei dem einen und Witz bei dem anderen derart zusammenkommen, muss man sich um den Bestand der abendländischen Kultur wohl kaum ernsthaft sorgen.
Asfa-Wossen Asserate: Manieren. Die Andere Bibliothek. 388 S.,geb., 20 €. Rainer Erlinger, Höflichkeit - Vom Wert einer wertlosen Tugend. S. Fischer Verlag. 351 S., geb., 19,99 €.
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