Film »Toxic«: Aber hier leben, nein danke

Der Film »Toxic« zeigt die litauische Jugend auf der Suche nach einem Weg, der Trostlosigkeit zu entkommen

Immerhin haben sie noch die Energie, an ein Glücksversprechen zu glauben.
Immerhin haben sie noch die Energie, an ein Glücksversprechen zu glauben.

Filmen aus dem Baltikum, in diesem Fall aus Litauen, begegnet man im hiesigen Kino selten bis nie. Um so interessanter ist der Einblick in die soziale Verfasstheit des Landes, den wir der 1994 geborenen Autorin/Regisseurin Saulė Bliuvaitė verdanken, die in »Toxic« ihre eigenen Erfahrungen als Jugendliche in einer toxischen Umgebung verarbeitete. Die Entwicklung der drei baltischen Länder nach (Wieder-)Erlangung der Unabhängigkeit gilt gemeinhin als neoliberale Erfolgsgeschichte, und 2004 traten sie der EU bei. In Litauen ist dieser vermeintliche Erfolg mit der Abwanderung fast eines Viertels der Bevölkerung seit 1991 allerdings teuer erkauft.

Die Welt, in der die 13-jährige Marija lebt, macht den Wunsch nach Auswanderung sofort nachvollziehbar. Langeweile, Armut und Perspektivlosigkeit in der trostlosen und heruntergekommenen Industriestadt prägen das Leben der Heranwachsenden. Marija (Vesta Matulytė) ist von ihrer Mutter verlassen worden und muss zu ihrer Großmutter ziehen. In der neuen Stadt ist sie einsam, und weil sie zwar groß und hübsch ist, aber eine leichte Gehbehinderung hat, wird sie von den anderen gemobbt. Nun wäre freilich die Gesellschaft nicht die, in der wir leben, wenn sich nicht auch noch die Träume und Sehnsüchte der abgehängten Kleinstadtjugend ausbeuten und in klingende Münze verwandeln ließen. Für Marija und ihre erst Rivalin, dann enge Freundin Kristina (Ieva Rupeikaitė) ist die lokale Modelagentur das Glücksversprechen, das den halbwüchsigen Mädchen den Traum von der großen weiten (Model-)Welt einpflanzt, um mittels überteuerten Fotoshootings und Laufsteg-Klimbim ordentlich abzukassieren.

Angesichts des Versprechens von einem besseren Leben fügen sich die Mädchen bereitwillig den Zwängen, die ihnen die erhoffte Modelkarriere auferlegt. Sich den verordneten Idealmaßen entgegenzuhungern ist dabei nicht die einzige Gewalt, die sie ihren Körpern antun, Essstörungen und Selbsthass inklusive. Es ist bedrückend, mit anzusehen, wie die Mädchen auf der Suche nach Identität und Zugehörigkeit sich selbst malträtieren, um einem System zu genügen, das doch nichts weiter will als sie auszubeuten und Kasse zu machen.

Angesichts des Versprechens von einem besseren Leben fügen sich die Mädchen bereitwillig den Zwängen, die ihnen die erhoffte Modelkarriere auferlegt.

Die nächste Stufe in der menschenverachtenden Verwertungskette des Model-(Un-)Wesens, in der Frauen nichts weiter als Material und/oder Frischfleisch für solvente Herren sind, werden beide trotzdem nicht erklimmen, so viel darf verraten werden. Interessanter als der allzu kurze Traum der beiden vom Modeln ist aber sowieso das Gesamtbild von Verlorenen in einer verlorenen Welt, welches die Regisseurin entwirft. »Toxic« ist das Porträt einer Jugend, die wie betäubt durch die Artefakte einer untergegangenen Arbeitsgesellschaft streunt und dabei weitgehend auf sich allein gestellt ist.

Die Kamera (Vytautas Katkus) findet berückend schöne Bilder für die Gefühlslage ihrer Protagonisten und die Trostlosigkeit der postindustriellen Landschaften, in denen die Jugendlichen sich ihre eigenen Räume schaffen. Hier, wo sie ganz unter sich sind, verlieren die Werte und Strukturen der Erwachsenen ihre Bedeutung, ist der Himmel weit und der Exzess nah. Man wird an die Bilder des Fotografen Tobias Zielony erinnert, der mit seinen ungeschönten Porträts von Jugendlichen im öffentlichen Raum bekannt wurde. Als Schauplatz dienen Zielony die städtischen Randzonen, die von den Jugendlichen vereinnahmt werden, und die nach Einbruch der Dunkelheit eine latente Bedrohung ausstrahlen. Regisseurin Saulė Bliuvaitė verfolgt dasselbe Prinzip und beobachtet die Jugendlichen in ruhigen, wohlkomponierten Einstellungen bei ihrem klandestinen Treiben. Die Erwachsenen kommen praktisch nicht vor; sie sind mit sich selbst und dem eigenen Überlebenskampf beschäftigt. Auch vom Staat und seinen Institutionen ist nichts zu sehen und nichts zu erwarten, die Schule spielt im Leben der Mädchen kaum eine Rolle.

Mit »Toxic« gewann Saulė Bliuvaitė bei ihrer ersten Wettbewerbseinladung auf Anhieb den »Goldenen Leoparden«, den Hauptpreis des Filmfestivals von Locarno. Überzeugt haben mag die Jury die Universalität der Geschichte einer ausbeuterischen, patriarchalen Gesellschaft, mit deren toxischen Strukturen viele junge Frauen auf der ganzen Welt zu kämpfen haben.

»Toxic«: Litauen 2024, Regie: Saulė Bliuvaitė. Mit: Ieva Rupeikaitė, Vesta Matulytė, Giedrius Savickas. 99 Minuten, Start: 24. April.

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