Holen wir die Hoffnung wieder auf die linke Seite
Wieder hat die Linkspartei eine Niederlage erfahren, wieder hat die AfD Erfolg gehabt. Was jetzt zu tun ist: Gastbeitrag von Klaus Lederer und Gregor Gysi
Wieder hat die LINKE eine Niederlage erfahren, wieder hat die AfD einen Erfolg für sich verbuchen können. Zur Ursachenanalyse gehören sicherlich konkrete, länderspezifische Bedingungen. Dennoch wirkt diese Tendenz nun schon länger, sie ist kein Spezifikum Mecklenburg-Vorpommerns. Umfragen zeigen ein schwindendes Vertrauen in die Demokratie, aufgrund der Alltagswahrnehmung einer wachsenden Zahl von Menschen: Die Annahme, dass sich mittels Politik die gesellschaftlichen Lebensumstände verändern ließen, erscheint ihnen immer weniger plausibel. Die Bundesregierung wirkt und ist überfordert.
Über Jahrzehnte legitimierte sich der wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus hierzulande und in vielen Staaten des Westens mit dem Versprechen, dass sich eigene Leistung auszahlen und dass ein gewisses Maß an sozialer Gleichheit die Gesellschaft befrieden würde. Wir wollen es nicht verklären: Dieses Versprechen galt nicht im selben Maß für alle, sondern zuerst für die männlichen, weißen Familienernährer. Aber im Rückblick wurde es wohl eher eingelöst. Die Bedingungen dieses Wohlstandsmodells waren ein stetiges Wachstum, ausgeglichene öffentliche Finanzen sowie eine öffentliche Infrastruktur und Dienstleistungen, die bestehende soziale Ungleichheiten abfederten.
Als 1992 so viele Geflüchtete wie 2015 Asyl beantragten, hatte unser Land Platz für sie, war leistungsfähig genug, die damit verbundenen Herausforderungen zu meistern. Rassistische Mobilisierung, Hass und Gewalt, wie in Lichtenhagen und Mölln, Asylrechtsverschärfungen der Politik als Reaktion – all dies gab es auch damals. Aber diese Tendenzen konnten sich nicht in der Art Bahn brechen, wie das heute nach einer Periode grundlegender neoliberaler Umgestaltung der Gesellschaft der Fall ist. Skandalöse Ungleichheit und Rückgang des Wachstums haben zu unglaublichem Reichtum und grassierender Armut geführt. Die Politik, Wachstum durch Entfesselung der Finanzwirtschaft zu stimulieren, hat diese Krise noch verschärft. In den Jahren nach der Wende hat sich für die meisten Menschen das Leben radikal geändert, Schritt für Schritt.
Die alten Zeiten, wo man glauben durfte, dass es stetig aufwärts gehe, dass zukünftigen Generationen die Welt mit allen Chancen offen stünde, sind vorüber. Stattdessen sollte und soll der Gürtel enger geschnallt, jeder seines eigenen Glückes Schmied werden, statt Anspruch auf gesellschaftliche und soziale Teilhabe geltend machen zu dürfen. Der Versuch, die konservative geistig-moralische Wende durch die Abwahl Kohls zu stoppen, führte zur Agenda 2010 von SPD und Grünen. Hartz IV war die Abschaffung des Teilhabeversprechens für diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage waren und sind, durch Erwerbsarbeit ihr Leben vollumfänglich sozial abzusichern. Von nun an gab es ganz offiziös »Leistungsträger« und ökonomisch »überflüssige Menschen«, die die Hilfe des Gemeinwesens nur noch unter Vorbehalt, Auflagen und Sanktionen, genießen dürfen.
Viele halten Solidarität für ein Risiko
Auch damit haben sich die Menschen arrangiert. Viele haben aber auch gelernt: Wenn es hart wird, zahlt sich nur der Ellenbogen aus, Solidarität birgt das Risiko eines existenziellen Verlustgeschäfts. Der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 folgte eine Krise der EU und der Demokratie. Der arabische Frühling wendete für die Menschen in den abgehängten Ländern des Nahen Osten nichts zum Besseren, sie werden von Krieg, Terror und Diktaturen geplagt. Die Zuspitzung zwischen Russland und dem Westen anhand des Ukrainekonflikts beseitigte die Gewissheit, die Gefahr eines Kriegs im Herzen Europas sei endgültig gebannt. Während die Reichen, die großen privaten Banken und Konzerne, sich ihrer Steuerpflicht gegenüber dem Gemeinwesen entziehen, nimmt der Druck gegenüber breiten Schichten, insbesondere den Deklassierten und Einkommensarmen, stetig zu.
Die Politik erscheint vielen als Anhängsel undurchschaubarer und zunehmend transnationaler Dynamiken, die nur den Reichen, den Eliten dienen. Das Projekt »Alternativlosigkeit« (Bernd Stegemann) – Bankenrettung, deutsche Sparpolitik als Exportschlager, Drohung mit Währungsausschluss Griechenlands – förderte Agonie, Wut und Frustration. Der Aufstieg der Partei DIE LINKE verdankte sich auch der Hoffnung, mit dem Kreuz auf dem Stimmzettel diese Politik zu ändern. Aber auch DIE LINKE konnte keine großen Veränderungen im Bund, nur kleine in Ländern und Kommunen durchsetzen. Alle haben für sich ihren Wert. Die gesellschaftliche Tendenz, dass jede und jeder verzweifelt für sich darum kämpft, dem sozialen Abstieg und der Unsicherheit zu entgehen, konnte jedoch nicht gestoppt werden. Die gesellschaftliche Linke hat sich entweder desavouiert oder erscheint machtlos. Ob in Frankreich, Italien, Polen oder Deutschland: So entsteht der Boden, auf dem die Rechte gedeihen kann. Es gibt keine starke, wirksame europäische Linke.
Was ist die Antwort der herrschenden Politik? Verbale Appelle an Anstand und Moral, Empörung über die Provokationen des AfD-Personals, wie sie von SPD, CDU bis Grünen allenthalben zu hören sind. Doch die sozialen Kosten der gegenwärtigen Entwicklung und ausschließlich moralischer Appelle landen bei einer Klasse unserer Gesellschaft: Bei den Prekarisierten und Geringverdienern, bei denjenigen, denen die herrschende Politik seit nunmehr bald 25 Jahren mitteilt: Kümmert euch um euch selbst, von uns habt ihr nichts anderes zu erwarten als weitere Zumutungen. Hier ist der Konkurrenzkampf um den immer knapper werdenden öffentlichen Raum, die schlecht bezahlten Jobs der weniger Qualifizierten und den letzten bezahlbaren Wohnraum in aller Schärfe entfesselt. Die Gefahr des sozialen Abstiegs steht für immer mehr Menschen im Raum. Und alle Moral- und Anstandsappelle können nur schwer kaschieren, dass die herrschende Politik auf Sicht fährt, die zunehmenden Krisen immer weniger beherrscht, die Dinge aus dem Ruder zu laufen scheinen.
Rechte Projektionsfläche für irrsinnige, gefährliche Illusionen
»Wir schaffen das«, was den einen Mut zum Engagement machte, das klingt offenbar in den Ohren anderer wie Hohn. Besonders in den Ohren derjenigen die die Zumutungen der Individualisierung sozialer Risiken tagtäglich auszuhalten haben. Gegen Geflüchtete herrschen immer mehr abstrakte Ängste die unbedingt abgebaut werden müssen. Der Kanzlerin, deren Politik noch die massenhafte solidarische Hilfsbereitschaft vieler Menschen zur Aufrechterhaltung der Austeritätspolitik instrumentalisiert und parallel dazu die Abschottung der Festung Europas und Deutschlands vorantreibt, die Konsequenzen ihrer Moral in den Staaten der europäischen Peripherie ablädt, steht die vermeintliche Ehrlichkeit der AfD gegenüber, die, so scheint es, diese Politik doch nur konsequent zu Ende denkt: Mauern, Schießanlagen nach außen, religiöse und »kulturelle Homogenität« sowie der Rückfall in überwundene Geschlechter- und Familienmuster im ganzen Lande, so die Verheißung, könnten die ersehnte Beherrschbarkeit und Ordnung der Ereignisse wiederherstellen.
Im Grunde bieten die Rechtspopulisten die Projektionsfläche für die irrsinnige und gefährliche Illusion, politische Stagnation, zerfallende Ordnungen und die Rückkehr der lange Zeit exportierten Folgekosten einer asozialen Entsolidarisierungspolitik – global wie national – ließen sich dadurch in Griff kriegen, dass kollektiv der Kopf in den Sand gesteckt wird. Aber es liegt auf der Hand, dass die Probleme der Welt dadurch nicht verschwinden, sondern nur größer werden. Dass sie ohne eine grundlegende Neuordnung von Politik und Ökonomie uns nur wenig später umso heftiger und unbeherrschbarer auf die Füße fallen werden.
Deshalb ist die Debatte um »Obergrenzen« absurd. Denn eine Obergrenze müsste – weil das Grundgesetz immer noch gilt – nicht nur beim ersten Geflüchteten oberhalb dieser Grenze vor dem Bundesverfassungsgericht fallen, der Asylgründe nachweisen kann. Vor allem aber wird keine noch so hohe Mauer verhindern, dass mit fortgesetzten globalen Krisen immer mehr Menschen aus purer Verzweiflung alles tun werden, um das vermeintlich rettende Ufer der reichen Staaten des globalen Nordens zu erreichen. Schon deshalb dürfen Linke diese Illusion keinesfalls bedienen. Die Globalisierung der Ökonomie führt auch zur Globalisierung der Menschheit. Kriege, Hunger, Not und Elend – egal wo sie auf der Welt herrschen – treffen mehr und mehr auch die Länder des Nordens. Die Probleme Afrikas etwa sind jetzt europäische.
Konkret, radikal-pragmatisch, klassenpolitisch
Die Annahme, dass Politik nichts ändern könnte, ist falsch. Es ist höchste Zeit, dass etwas gegen die um sich greifende Verunsicherung und Hoffnungslosigkeit vieler Menschen unternommen wird. Die gesellschaftliche Linke und DIE LINKE müssen diese Herausforderung annehmen. Statt die rein moralische Kulisse des Merkelschen »Wir schaffen das«-Bekenntnisses lediglich zu reproduzieren, muss sie die soziale Klassendimension der gesellschaftlichen Spaltungsprozesse auch in diesem Zusammenhang immer wieder thematisieren – und konkrete, radikal-pragmatische Ideen und Vorschläge für ihre Überwindung unterbreiten. Ebenso wenig darf sie der Versuchung erliegen, den Glauben an ein Zurück zu ethnisch homogenen nationalstaatlichen Einheiten zu unterstützen – oder rechtspopulistischen Argumentationsmustern auch nur einen Schritt in der irrigen Annahme entgegenzukommen, damit Wut und Verzweiflung »in linke Bahnen lenken« zu können. Linke Aufgabe muss es vielmehr sein, die Verteilung von Ressourcen, Chancen und Perspektiven so zu gestalten, dass Zusammenhalt und Solidarität über ethnische und kulturelle Unterschiede hinweg ganz praktische Werte im Alltag werden können.
Die AfD ist eine Gründung eingefleischter Rechter, ihr Programm atmet den Geist gesellschaftlicher Spaltung entlang ethnischer Konfliktlinien, ihr Personal beschwört eine ultrareaktionäre nationale Wiedergeburt. Aber ihr anhaltender Erfolg ist weder allein mit den gesellschaftlich verbreiteten Ressentiments und rassistischen, antisemitischen, antidemokratischen Denkmustern, noch ausschließlich mit den Fliehkräften der entfesselten Marktgesellschaft zu erklären. Kann die Linke eine dem Rechtspopulismus entgegengesetzte Dynamik entfachen, die die progressive Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Zustände – hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, Demokratie und Solidarität – wieder in das gesellschaftliche Zentrum rückt?
Mit entsprechenden Mehrheiten könnten schon jetzt und recht bald einige Dinge grundlegend anders werden. Soziale Gerechtigkeit durch Erbschafts-, Vermögens- und gerechte Einkommenssteuern, Preiskontrollen bei Strom und Mieten, Beschäftigungsgarantien für Jugendliche und dramatisch höhere Investitionen in Bildung, die Verpflichtung der Banken, auf kleine Einlagen einen Positivzins zu zahlen, Mindestrente und Mindesteinkommen – das sind sehr konkrete Forderungen. Jede für sich ist geeignet, die Erfahrung zu vermitteln, dass eine Änderung der Regeln auch die Lebensumstände breiter Schichten der Bevölkerung verbessern kann. Bei der Einkommenssteuer müssen endlich die Mitte entlastet und die hohen Einkommen stärker belastet werden. Das Öffentliche muss ausgebaut, darf nicht länger geplündert werden.
… dass die Gesellschaft von uns gestaltbar ist
Lösungen gibt es auch für die brennenden europäischen und globalen Probleme. Zu Recht hat Yanis Varoufakis eine Europäisierung und Internationalisierung der Linken gefordert. Angesichts dessen ist DIE LINKE bemerkenswert still. Kapitalverkehrskontrollen, politische Kontrolle über die Notenbanken und eine neue Form der Staatsfinanzierung lassen sich genauso wenig nationalstaatlich organisieren wie die Unterwerfung der Finanzmärkte und Banken unter öffentliche Kontrolle. Rüstungskontrolle und Abbau gerade auch der deutschen Rüstungsexporte, Technikkontrolle und Umweltschutz, Rückzug aus Auslandseinsätzen, massiven Ausbau der Entwicklungshilfe, internationale Übereinkommen zur Regelung des Umgangs mit Natur und Bodenschätzen zur Beendigung des globalen Raubs und Raubbaus, sowie die Beendigung der Spekulation mit Boden, Naturressourcen und Nahrungsmitteln – all das steht jetzt auf der Tagesordnung, bevor die globalen Risiken und Fehlentwicklungen unbeherrschbar werden. Die EU darf nicht weiter so billige Lebensmittel in den Süden, insbesondere nach Afrika, exportieren, so dass die dortige Landwirtschaft kaputt geht. Den Konzernen muss verboten werden, Saatgut so zu genmanipulieren, dass es nicht vervielfältigt werden kann. Es ist wichtig, reicht aber nicht mehr aus, allein gegen TTIP und CETA zu demonstrieren.
Natürlich sind wir nicht naiv. Nichts davon geht über Nacht. Wir sind nur zutiefst davon überzeugt, dass Deutschland sehr rasch diese und weitere Forderungen erheben und umsetzen könnte. Das ist unabweisbar. Mehr braucht es zunächst auch nicht, um vielen Menschen die Hoffnung wiederzugeben, dass die Gesellschaft politisch, nach ihren Interessen, durch sie selbst, gestaltbar ist. Dass sie nicht Objekte abstrakter Mächte sind, sondern Subjekte gesellschaftlichen Fortschritts sein können. Dass Einwanderung, dass Internationalität und Vielfalt nicht nur eine Gefahr, sondern eine gewinnbringende Erfahrung sein können. All das ist verhandelbar, aber eben nur mit denjenigen Kräften, die Demokratie, Pluralismus, soziale Gerechtigkeit und Solidarität, die Vision einer friedlichen Welt als Leitmotive akzeptieren. Wir tun dies. Dass das einfach wird, nimmt niemand an. Aber das ist kein Grund, es nicht zu versuchen. Holen wir die Hoffnung wieder auf die linke Seite. Gerade jetzt.
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