Ohne Visionen zu den Paralympics

Vor den Weltspielen des Behindertensports kommt erneut die Inklusionsdebatte auf

  • Ronny Blaschke, Rio de Janeiro
  • Lesedauer: 3 Min.

In ihrem Verein, dem Hamburger Kanu-Club, ist Edina Müller die einzige Athletin mit einer Behinderung - anders behandelt wurde sie deshalb noch nie. »Mein Kanu ist etwas breiter, ansonsten gibt es keinen Unterschied«, sagt die querschnittgelähmte Sporttherapeutin. »Wir nutzen die gleichen Strecken und Strukturen.« Mit den deutschen Rollstuhlbasketballerinnen hatte Müller 2012 bei den Paralympischen Spielen in London Gold gewonnen. Sie beendete ihre Teamlaufbahn und wechselte die Sportart. Im Kanu trainiert sie mit nichtbehinderten Athleten, regelmäßig nimmt sie auch an deren Wettbewerben teil. Der Deutsche Kanu-Verband und der Weltverband ICF legen großen Wert auf die Zusammenarbeit von olympischen und paralympischen Athleten. Deren Wettbewerbe finden an denselben Orten statt. Sie profitieren von denselben Zuschauern, Trainern und freiwilligen Helfern.

Inklusion: Ein großer Teil der deutschen Gesellschaft tut sich schwer mit diesem Begriff. Gemeint ist die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Inklusion ist das Gegenmodell zur Sonderbehandlung von behinderten Menschen, wie sie in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts propagiert wurde. Vollkommene Inklusion würde im Leistungssport die Verschmelzung von Olympischen und Paralympischen Spielen bedeuten. Immer wieder wird diese Idee von Politikern oder Menschenrechtlern gefordert, so auch nun vor den Weltspielen des Behindertensports, die am Mittwoch in Rio beginnen. Die Unterstützer dieser Idee verkennen die schiere Größe einer solchen Veranstaltung mit dann rund 15 000 Sportlern, sie sind sich auch nicht im Klaren über einen entscheidenden Fakt: Im Spitzensport fehlt die gemeinsame Grundlage.

Der Kanurennsport ist eine von wenigen Ausnahmen in der Welt des Fortschritts, zu der auch Triathlon oder Sportschießen gehören. Das Internationale Paralympische Komitee hatte 2007 das Ziel ausgegeben, spätestens 2016 nicht mehr als Fachverband zu wirken. Behinderte und nichtbehinderte Athleten sollen in denselben Strukturen der Sportarten aktiv sein, so der Plan. Doch noch heute muss das IPC in zehn Sportarten die Weltmeisterschaften ausrichten. Auch in der Leichtathletik und im Schwimmen, da deren Weltverbände wenig Interesse an Sportlern mit einer Behinderung zeigen. »Es fehlt die Gesprächsbereitschaft und der Nachdruck«, sagt Jörg Frischmann, der Geschäftsführer der Behindertensportabteilung bei Bayer Leverkusen.

In Deutschland sind inklusive Musterzentren entstanden, zum Beispiel im Schwimmen in Berlin-Hohenschönhausen oder in der Leichtathletik in Leverkusen, aber laut Frischmann fehle die ganzheitliche Gleichberechtigung. »Wir haben zuletzt sogar Rückschritte gemacht«, sagt er. Die Inklusionsdebatte wurde stark auf Markus Rehm reduziert. Der unterschenkelamputierte Weitspringer kämpfte vergeblich für einen Start bei den Olympischen Spielen. Bei vielen Unwissenden konnte so der Eindruck entstehen, dass man sich für einen Weltrekord nur eine Prothese umschnallen müsse. Ausnahmekönner wie Markus Rehm aber sind selten und nicht repräsentativ.

»Lehrer und Trainer sollten mit Unterschiedlichkeit arbeiten können«, sagt Thomas Abel, Experte für paralympischen Sport an der Sporthochschule Köln. »Daher müssen wir die Fachdidaktik von Anfang an auf Inklusion ausrichten.« Nicht immer lassen schwere Behinderungen ein gemeinsames, also inklusives Sporttreiben zu. Mal scheitert es an fehlender Barrierefreiheit in den Hallen, mal an unterschiedlichen Trainingsprogrammen. Doch auch dann könne man Gemeinsamkeiten betonen, sagt Thomas Abel. Das beweisen die modernen Verbandsstrukturen in Großbritannien, Kanada oder in den Niederlanden. Dort orientieren sich Trainerausbildung, Antidopingkampf oder Prämienregeln an behinderten und nichtbehinderten Athleten.

Mehr als 90 Prozent der Nationen sind von solchen Strukturen weit entfernt. Auch aus dem Deutschen Olympischen Sportbund ist bisher nichts Visionäres zum Thema verlautet worden. »Wir brauchen gemeinsame Erfahrungswerte, wir brauchen eine Graswurzeldebatte«, sagt die frühere Biathletin und zwölffache Paralympicssiegerin Verena Bentele, seit 2014 ist sie Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Ihr Wunsch: parallel stattfindende Weltcups oder Deutsche Meisterschaften. So lange man das nicht hinbekomme, sagt sie, brauche niemand von der Zusammenlegung von Olympischen und Paralympischen Spielen zu träumen.

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