»Schiefgegangen? ...
Kathrin Gerlof über Michael Müllers reines Gewissen und eine Karte für den Bundespresseball
... Da habe ich kein Thema.« Wahrscheinlich bekommt der noch und vielleicht auch bald wieder Regierende Bürgermeister Berlins, Michael Müller, viel Post, seit er diese Antwort auf die Frage einer Tageszeitung gegeben hat, was in seiner Amtszeit gelungen und was nicht gelungen ist. Man muss dem Mann zugutehalten, dass er vielleicht überrumpelt war von so einer perfiden Anmache. Warum sollte gerade er öffentlich darüber reden, was schlecht gelaufen ist? Über persönliche Misserfolge reden die Menschen genau so ungern wie über schlechten Sex. Oder gar keinen Sex.
Und Müller ist auch nur ein Mensch. Auf der anderen Seite ist der Mann aber auch Regierender Bürgermeister. Und er hätte mit einer solchen Frage rechnen sollen. Oder seine Berater hätten ihm sagen müssen: »Pass auf, Michael, könnte passieren, dass dich jemand fragt, ob in den letzten Jahren irgendwas nicht so gut gelaufen ist, wie du dir es vielleicht vorgestellt hast.« Und dann hätten sie ihm drei oder vier Stichpunkte nennen können. Dinge, die zwar nicht so super gelaufen sind, inzwischen aber einer Lösung zugeführt wurden, oder kurz davor stehen, gelöst zu werden. So was in die Richtung.
Auf Müller einzukloppen und Petitionen zu starten, nur weil dem zu seiner Amtszeit nichts Negatives einfällt, ist also nicht der richtige Weg. Die Berater sind schuld, spinnende Doktoren möglicherweise, die mit dem Kopf immer irgendwo in den Wolken schweben und nicht wissen, dass der Berliner und die Berlinerin sehr wohl zu schätzen wissen, wenn jemand ein bisschen Reue zeigt oder Besserung gelobt. Oder auch mal den Finger in die Wunde legt, die Dinge beim Namen nennt, ein offenes Wort zur rechten Zeit spricht.
Ein verflossenes Staatsoberhaupt der DDR hat es einst mit dem Satz »Das Erreichte ist noch nicht das Erreichbare« auf den Punkt gebracht. Es geht also, weiß die Geschichte zu erzählen.
Aber bis zum 18. September werden wir Müllers kleine Absenz auch wieder vergessen haben. In Berlin passiert ja jeden Tag was Aufregendes. Eisern Union könnte zum Beispiel gegen den Karlsruher FC gewinnen. Das wäre toll und schon geriete Michael Müller in Vergessenheit.
Jeder siebte in Berlin lebende Mensch gilt als arm. Rund 483 000 verfügen nur über ein monatliches Nettoeinkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze. Die liegt in der Hauptstadt bei 841 Euro. Eine Karte für den Bundespresseball kostet, wenn man auch einen Sitzplatz haben und was zu essen bekommen möchte, 650 Euro. Wollte ein armer Berliner da hingehen, blieben also noch 191 Euro für den Monat zum Leben. Oder nein - es gibt eine Kleiderordnung und die sieht nicht vor, dass man sich bei Humana bedient oder eine Kleidertonne überfällt.
Betroffen von Armut sind jede und jeder zweite Erwerbslose, viele viele Kinder und Jugendliche, junge Erwachsene, Singles, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Migrantinnen und Migranten. Hier gibt es natürlich Überschneidungen, das relativiert die Sache ein bisschen. Eine alleinerziehende, arbeitslose Mutter mit drei Kindern und Migrationshintergrund zum Beispiel schlägt schon mal sechs Fliegen mit einer Klappe und schafft vier Personen in einer von diesen 483 000 weg. Wenn man es so sieht, dann schaut die Sache schon weniger schlimm aus.
Es gibt übrigens für den Bundespresseball, der im November im Hotel Adlon stattfinden wird, auch eine sogenannte Flanierkarte. Die kostet nur 350 Euro, man darf aber nicht sitzen und offensichtlich gibt es dann auch nichts zu futtern. Das ist für Arme doof, die haben ja manchmal Hunger. Und müde sind sie auch oft. Vom vielen Armsein. Man kann aber zur Bundespresseballkarte noch ein Deluxe-Zimmer im Adlon für eine Nacht buchen. Kostet 235 Euro.
Müller geht da ja vielleicht hin. Wenn nichts schiefgeht.
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