Helden in Russland, in Deutschland nicht anerkannt
Die Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft gedachte der Opfer der Leningrader Blockade vor 75 Jahren
Es war mehr als eine Geste. Sie kam von Herzen: die Schweigeminute für die Opfer der deutsch-faschistischen Blockade von Leningrad. Sie wurde begleitet von leisen Tönen aus Dimitri Schostakowitschs 7. Sinfonie, genannt die Leningrader Sinfonie.
Andreas Eberhardt, Vorstandsvorsitzer der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ), sprach zum Auftakt einer Veranstaltung im Domizil seiner Institution in Berlin von einer nach langen Jahren endlich fest in der deutschen Zivilgesellschaft verankerten Erinnerungskultur. Der im westfälischen Münster promovierte Politikwissenschaftler konzedierte indes auch: »Der Blick nach Osten fällt uns aber bis heute noch sehr schwer.« Und er wusste Unerhörtes anzumerken. Am Tag nach der Rede des russischen Schriftstellers Daniil Granin am 27. Januar 2014 im Deutschen Bundestag, der an die Leiden der Leningrader in den Jahren 1941 bis 1944 erinnerte, kritisierte der Berliner »Tagesspiegel«, das Gedenken an den Holocaust sei hierdurch verwässert worden. Dummheit oder Böswilligkeit? Gilt doch der 27. Januar hierzulande seit nunmehr zehn Jahren als ein Tag des Gedenkens aller Opfer des »Nationalsozialismus«. Eberhardt bedauerte zudem, dass trotz der Wehrmachtsausstellung und in den letzten Jahren in der Bundesrepublik erschienenen Publikationen über den Vernichtungskrieg gegen die UdSSR die 27 Millionen sowjetischen Opfer, in der Mehrzahl Zivilisten, im öffentlichen Bewusstsein der Deutschen nach wie vor kaum präsent sind.
Tatsächlich klafften Welten in Wahrnehmung und Wissen zwischen beiden deutschen Staaten und Gesellschaften. In der DDR kannten schon Kinder die Geschichte von Tanja, die heute wieder vergessen ist. Ihr nur aus wenigen Seiten bestehendes Tagebuch berührte uns. Der erste Eintrag des Leningrader Mädchens vermerkte: »Shenja starb am 28. Dezember 1941, um 12 Uhr.« Ebenso akribisch notierte sie den Tod weiterer Familienangehöriger: Großmutter, Onkel Wasja und Onkel Ljoscha, Mutter … Zum Schluss heißt, alle Sawitsches seien nunmehr tot: »Umerli wsje. Ostala odna Tanja.« - »Alle sind gestorben. Tanja ist allein.«
Tanja Sawitschewa wurde nur 14 Jahre alt. Sie erlag den Entbehrungen und Strapazen der Blockade. Warum wird an deutschen Schulen über ihr Schicksal nicht mehr gesprochen? So verdienstvoll eine Veranstaltung wie die der Stiftung EVZ am Vorabend des 75. Jahrestages der deutschen Einkesselung von Leningrad ist - hier trafen sich »nur« jene, die bereits wissend sind und ihre Kenntnisse mit Erfahrungen aus dem Munde von Zeitzeugen vertiefen wollten.
Eine Million Leningrader starben während der Blockade. Schätzungsweise. Ungezählt sind die Zigtausenden vor den anrückenden Deutschen in die Stadt geflohenen, unregistrierten Menschen. Unbekannt die Zahl der nach der Evakuierung und Befreiung noch den Folgen von Auszehrung und Krankheiten sterbenden Frauen, Kinder und Männer. Die Historikerin Andrea Zemskov-Züge informierte: Erhielten zu Beginn der Blockade Fabrikarbeiter noch 600 Gramm Brot, Frauen und Kinder 300, reduzierten sich die Rationen bald auf 250 und 125 Gramm. »Dystrophie war die häufigste Todesursache, die Menschen brachen auf der Straße zusammen, erschöpft vom Stress der Beschießung, Kälte und Hunger.«
Am 4. September 1941 hatte die deutsche Artillerie begonnen, die Stadt an der Newa unter Beschuss zu nehmen, manche Tage belferten sie 18 Stunden lang. Am 8. September war der Ring geschlossen. Hitler und die Wehrmachtsführung hatten beschlossen: Die Stadt, die den Namen des Begründers der Sowjetunion trug, sollte ausgehungert werden, es werde keine Kapitulation angenommen.
Zur Versorgung der Stadt blieb nur der Ladogasee, ab Mitte November vereist. »Straße des Lebens« nannten die Leningrader die Eispiste, über die täglich 4000 Kraftfahrzeuge rollten, Frauen und Kinder hinaus- und Lebensmittel hineinbringend. Im Januar 1943 begann die Operation Iskra der Roten Armee, am 27. Januar 1944 war die Stadt befreit - nach 871 Tagen unermesslichen Leidens.
Irina Burghardt, die vier Jahre alt war, als die Blockade begann (und trotz schlimmer Erfahrungen 1968 einen Deutschen heiratete, »aus der DDR«), berichtete über den Hungerwinter 1941/42. Ihr Überleben verdanke sich dem Geschick des Vaters, der die silberne Taschenuhr des Großvaters rechtzeitig gegen einen Sack Kartoffeln umgerubelt hatte. Und dank der Reizwäsche, die die Mutter von deren Schwester dereinst geschenkt bekommen hatte. Als alles auf dem Schwarzmarkt eingetauscht war, wurde aus Holzleim und Rindsleder Suppe gekocht. Ab April 1942, erzählte die Zeitzeugin, habe es im Detski Sad (so die wörtliche Übersetzung der deutschen Erfindung »Kindergarten«) immerhin drei Mal am Tag eine dünne Milchsuppe gegeben.
Irina und ihre Mutter hatten Glück, sie kamen auf eine der heiß begehrten Evakuierungslisten und strandeten im Hunderte Kilometer entfernten Oblast Jaroslawl. Der kriegsuntaugliche Vater blieb in Leningrad, arbeitete als Buchgrafiker und half in einem Hospital aus. »Seine Beobachtungen bei Operationen brachte er zu Papier. Sein ›Handbuch des Heilens‹ half vielen, auch an der Front«, berichtet Irina Burghardt stolz, die seinerzeit mit dem Vater in brieflichem Kontakt blieb. »Die Post funktionierte hervorragend, besser als heute.«
Ein Trauma, das Irina Burghardt bis heute nicht loslässt, ist der Tod des Bruders ihrer Mutter. »Er war 26, als er im Februar 1942 zu uns kam. Sein junges Herz wollte schlagen, er wollte leben, aber er war schon zu schwach und starb nach einer Woche. Sein Leichnam lag einige Tage in unserem Flur, fest eingewickelt in Tüchern. Wenn ich über den Flur lief, hatte ich Angst, die leblose, dunkle Gestalt aus Versehen zu berühren.«
Irina Burghardt, die in der DDR an der Wissenschaftsakademie arbeitete, war 1988 Mitbegründerin der Gruppe Dialog, einer Vereinigung von Veteranen, die heute von der Stiftung EVZ unterstützt wird. Wie Projektleiterin Natalie Roesler mitteilte, leben in Berlin noch etwa 60 »Blokadniki«, wie sich die Kinder der Leningrader Blockade nennen, 300 in ganz Deutschland. »In Russland werden sie als Helden des Krieges geehrt, in Deutschland sind sie als Opfer des Holocaust nicht anerkannt.« Die Bezüge, die sie vom russischen Staat wegen des durch Deutsche erlittenen Grauens beziehen, rechnet der deutsche Staat ihnen wieder aus den Renten raus.
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