»Macht euch locker!«
Linkspartei-Vorsitzende Katja Kipping über Schenkelklopfer, 90-Stunden-Jobs und den Produktionsbereich Muße
Sie haben einmal gesagt, Sie seien über die Verkehrspolitik zum Feminismus gekommen. Das müssen Sie uns erklären.
Ich war als junge Landtagsabgeordnete in Sachsen verkehrspolitische Sprecherin. In der Verkehrsplanung habe ich eine Benachteiligung von denen gesehen, die eher stärker auf Bus und Bahn angewiesen sind. Studien zum Mobilitätsverhalten besagen: In der Regel fährt der Mann morgens im Auto einen langen Weg von zu Hause zur Arbeit und abends wieder zurück. Wer in den Familien aber für die Kinderbetreuung zuständig ist, und das sind immer noch überwiegend Frauen, der hat viele verschiedene kurze Wege - das Kind zur Kita bringen, Einkaufen und so weiter - und ist öfter auf Bus und Bahn angewiesen. Ein Großteil des Geldes floss allerdings in den Autoverkehr, die Fernstraßen und nicht in die Sicherung des öffentlichen Personennahverkehrs. Eine klassisch männliche Planung halt.
Haben Sie das damals kritisiert?
Na klar. Verkehrspolitik war damals eine richtige Männerdomäne. Entsprechend gab es Machismus im Landtag, wenn die CDU-Abgeordneten schenkelklopfend da saßen und von den Verkehrsmädels bei der PDS sprachen. Heute würden wir darüber müde gähnen. Aber in dem Moment habe ich gemerkt, dass es um mehr geht.
Katja Kipping ist eine von zwei Vorsitzenden der Partei DIE LINKE. Die 41-Jährige ist in Dresden geboren. Dort hat sie bis heute ihren Bundestagswahlkreis. Kipping zog 1999 in den sächsischen Landtag ein. Im Jahr 2005 wurde sie erstmals in den Bundestag gewählt, dem sie bis heute angehört. Bis zu ihrer Wahl zur Ko-Vorsitzenden der Linkspartei war sie Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales.
Wurden Sie ernst genommen?
Die Jungs mussten lernen, Frauen besser ernst zu nehmen. Mir ist damals auch aufgefallen, dass wenn ein Mann und eine Frau über Fakten streiten, und er hat eine tiefe Stimme und sie eine hohe, die im Streitgespräch noch höher wird, dass immer zunächst unterschwellig die Kompetenzvermutung beim Mann ist. Ich hatte dann den Ehrgeiz, immer besser vorbereitet zu sein, die Studien zur Verkehrsplanung noch gründlicher gelesen zu haben. Aber schnell wurde mir klar, dass es sich hier um eine klassische patriarchale Machttaktik handelt.
Ihre erste Erfahrung mit Diskriminierung am Arbeitsplatz?
Ich hätte das damals nicht Diskriminierungserfahrung genannt. Ich habe mich anfangs vor allem geärgert über den fiesen Trick, der hinter diesem Verhalten steht.
Und der ist ...
Es ist ein Unterschied, ob ich die Verkehrspolitik im Interesse einer Betonlobby mache oder ob ich sie im Interesse der vielen Leute mache, die auf Bus und Bahn angewiesen sind. Dementsprechend setze ich unterschiedliche finanzielle Schwerpunkte. Das war also ein ganz klassischer Trick des Patriarchats, eine alternative politische Vorstellung als mangelnde Kompetenz abzutun. Heute würde ich sagen: Das war strukturell sexistisch.
Sie sagten, damals gab es die Schenkelklopfer von der CDU-Fraktion. Wie war das denn in der PDS oder später in der Linkspartei?
Was wir in Punkto Feminismus in der LINKEN erreicht haben, wurde uns nicht auf dem Silbertablett präsentiert. Es hat harte Kämpfe gegeben und der Herausbildung feministischer Netzwerke bedurft, um letztlich die Kultur zu ändern. Ich hatte innerhalb der Partei nicht mit aggressivem Sexismus zu tun. Die Männerbündelei war nur in bestimmten Situationen spürbar.
Haben Sie ein Beispiel?
Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Fraktionsklausur vor einigen Jahren, zu der parallel in einem Landesverband ein richtiges Problem aufgetreten war. Auf einmal trafen sich, während die Sitzung lief, auf wundersame Weise die wichtigen Männer in einer Ecke. Aber von den wichtigen Frauen, die auch in Verhandlungsgruppen waren, wurde niemand dazu geholt. Es gibt drei Dinge, die dagegen helfen: Erstens, immer wieder Bewusstsein schaffen, indem man das anspricht. Zweitens, darauf drängen, dass zentrale Entscheidungen in den Gremien getroffen werden. Wir haben dort schon lange eine Frauenquote von 50 Prozent. Wer eine Mehrheit haben will, muss die Frauen einbeziehen. Drittens: Frauennetzwerke schaffen.
Kann das im Entwurf vorliegende Lohngleichheitsgesetz von Familienministerin Schwesig helfen?
Klar ist auf jeden Fall, dass die Regierungsposition der letzten Jahre, man müsse auf freiwillige Regelungen setzen, falsch ist. Das ist wie Warten auf Godot, der bekanntlich nie kommt. Deshalb: Es geht nur über die gesetzliche Verpflichtung mit empfindlichen Strafen. Schwesigs Gesetz schafft ja erst mal nur Transparenz. Das schadet nicht, ist aber auch kein Durchbruch.
Unternehmerverbände sagen, Lohngleichheit und Quote seien wirtschaftsschädigende Bürokratie, sie fordern stattdessen familien- und bildungspolitische Maßnahmen.
Das ist Lobbyarbeit und zielt auf Besitzstandswahrung. Und es ist falsch. Es gibt Firmen mit Frauen an der Spitze, die sogar noch effizienter und nachhaltiger arbeiten. Sicher sind ausreichend Kitaplätze und gute Kinderbetreuung wichtig. Aber solange sich die Arbeitsverteilung zwischen Männern und Frauen nicht grundsätzlich ändert, solange die 90-Stunden-Woche als Standard in Führungsämtern gilt, geht ein Führungsamt für Frauen in der Regel mit Verlusten im Familienleben einher. Schon deswegen muss man da ran. Deshalb kann ich in Richtung der Kritiker nur sagen: Macht euch locker! Die Umverteilung der Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern - das ist für euch nicht ein Prestigeverlust, sondern ihr gewinnt viel mehr Zeit für liebevolle Familienarbeit sowie für Freunde.
Sie haben einen zeitintensiven Job, sind verheiratet und haben eine Tochter. Wie teilt sich denn die Familienarbeit im Hause Kipping auf?
Bei uns war klar, dass wir die Erziehungszeit Fifty-Fifty teilen. Das ist nicht immer ein romantischer Vorgang, sondern hat viel mit dem Kalender zu tun. Wir sind beide berufstätig, müssen schauen, dass sich Termine nicht überschneiden. Im Schnitt hole ich meine Tochter jeden zweiten Tag von der Kita ab. Es gibt Wochen, in denen ich weniger schaffe, das gleiche ich danach aber aus und gönne mir mehr Zeit mit der Kleinen. Das funktioniert im Großen und Ganzen, auch weil ich gelernt habe, Nein zu Terminen zu sagen.
Aus welchem familiären Hintergrund kommen Sie selbst?
Ich habe einen kleineren Bruder, den hat die Liebe nach Kalifornien verschlagen. Meine Mutter arbeitete als Musiklehrerin, mein Vater als Ökonom. Beide sind sehr unternehmungslustig.
Haben die Eltern Ihnen die Politik mit auf den Weg gegeben?
Nicht im engen parteipolitischen Sinne. Jedoch haben sie mich motiviert, mich einzubringen. Das hat bei mir in der Schule angefangen, als Klassen- und Schulsprecherin. Was mir meine Eltern mitgegeben haben ist, den Mund aufzumachen, wenn mir etwas gefällt oder wenn mich etwas stört. Und die Lust am gemeinsamen Planen von Unternehmungen habe ich auch von meinen Eltern.
Sie bezeichnen sich als feministische Marxistin ...
Die theoretischen feministischen Debatten habe ich über den Kontakt mit Frigga Haug kennengelernt, als ich mit ihr und vielen anderen anfing, an der Verbreitung der Vier-in-einem-Perspektive zu arbeiten. Diese Perspektive beschreibt einen Weg der radikalen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Der idealtypische Arbeitstag teilt sich danach zu gleichen Teilen auf in Erwerbsarbeit, Haus- und Fürsorgearbeit an anderen, politisches Engagement sowie die Arbeit an sich selbst, also etwa Kultur, Weiterbildung oder einfach Muße. Das ist nicht zu haben, wenn Menschen acht oder zehn Stunden am Tag erwerbsarbeiten müssen.
Und dazu gehört das bedingungslose Grundeinkommen?
Meiner Meinung nach Ja. Jedoch nicht alle Vier-in-einem-Anhängerinnen würden das mit derselben Leidenschaft wie ich so beantworten. Das Thema Grundeinkommen habe ich mir allerdings nicht über den Feminismus erschlossen, sondern über die Ökologie und die Frage, ob alles, was produziert wird, auch gesellschaftlich notwendig oder nützlich ist. Das Totschlagargument dagegen war immer: Arbeitsplätze! Sicherlich, erzwungene Erwerbslosigkeit ist ein großes Problem. Darum muss man für das Recht auf Arbeit kämpfen - und gleichzeitig gegen den Zwang zur Arbeit vorgehen. Gesellschaftliche Teilhabe muss allen garantiert sein, unabhängig vom Erfolg auf dem Erwerbsarbeitsmarkt.
Was bedeuten bedingungsloses Grundeinkommen und Mindestlöhne aus feministischer Sicht?
Manche Feministinnen hatten die Sorge, dass das Grundeinkommen nur eine Art Ruhigstellung für Frauen ist, die zu Hause bleiben, während Männer weiter die prestigeträchtigen und einflussreichen Jobs haben. Darum sind wir zu dem Schluss gekommen, dass das bedingungslose Grundeinkommen mit anderen Maßnahmen kombiniert werden muss. Dazu gehören die Umverteilung von oben nach unten und die Umverteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern. Das Grundeinkommen kann den Einzelnen und die Einzelne in die Lage versetzen, Nein zu sagen. Die unmittelbare existenzielle Erpressbarkeit - im Erwerbsleben oder in familiären Zusammenhängen - hört auf. Davon profitieren gerade Frauen, die überproportional in prekären Beschäftigungsverhältnissen sind. Das Patriarchat wird sich durch das Grundeinkommen nicht auflösen, aber es verbessert die Voraussetzung für aktive feministische Kämpfe.
Und an welcher Stelle fängt das an?
Überall. Es ist eine Illusion zu denken, dass man politische Kämpfe am Reißbrett entwirft und sie dann Punkt für Punkt abarbeiten kann. Es kann vielmehr manchmal gesellschaftliche Entwicklungen geben, nach denen es auf einmal ganz schnell geht, wie beim Atomausstieg nach Fukushima. Und es gibt Situationen, in denen man erst mal wieder Handlungsmacht erlangen muss. Mit der AfD geht ein neuer Konservatismus einher, eine Art geschlechterpolitischer Konterrevolution, die man erst einmal abwehren muss. Klar muss sein: Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der alle Geschlechter - Männer, Frauen und diejenigen, die sich dieser Zweierordnung nicht zugehörig fühlen - in unterschiedlichen Bereichen tätig sein können.
Wo steht der Feminismus heute?
Es gibt immer wieder Versuche bürgerlicher Medien, Feminismus als etwas Altmodisches abzutun. Ich nehme aber auch eine neue, wirklich ermutigende Entwicklung wahr. Es gibt wieder viele jüngere Frauen, die voller Selbstverständlichkeit sagen: Ja, ich bin Feministin.
Woran, meinen Sie, liegt das?
Es ist im starken Maße ein popkultureller Zugang. Einige Frauen abonnieren beispielsweise das Missy-Magazin als klares politisches Statement: Ich bin Feministin. Die Wahrnehmung ist auch geprägt von starken Frauenfiguren in Film, Musik und Fernsehen. Letztlich kommen viele zu dem Schluss, dass sie manche Bereiche einfach nicht mehr den Kerlen überlassen wollen.
Inwieweit knüpft das an den Feminismus der 70er, 80er Jahre an?
Ohne den Feminismus der 70er und 80er Jahre sind die heutigen feministischen Erfolge undenkbar.
Das heißt, die laufende Debatte um Arbeits- und Lebenszeit kann man ohne Geschlecht nicht denken.
Man kann sie wahrscheinlich auch ohne Geschlecht denken. Aber ich würde sagen, dass Arbeitszeitverkürzung jeder und jedem die Möglichkeit gibt, sich den anderen wichtigen Produktionsbereichen - namentlich der Familienarbeit, der Muße und der politischen Einmischung - zu widmen. Bei den Kämpfen um Zeit geht es um die wichtigste Ressource in unser aller Leben, da sie für alle leider begrenzt ist: Zeit. Und die sollten wir uns nehmen, für das was wirklich wichtig ist: unser Leben.
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