Schulter zum Ausweinen
Einer Studie zufolge trägt die Familie mehr zum langen Leben bei als der Freundeskreis
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zahl der Singlehaushalte kontinuierlich gestiegen. Für Alleinlebende sind Freunde oftmals wichtiger als Familienmitglieder: »Freunde sind die Familie, die man sich selbst aussucht«, bestätigen viele Singles und oft müssen Freundschaften inzwischen Familienbeziehungen ersetzen. Denn dass man seinen Heimatort inklusive Verwandte verlassen muss oder will, hat die verschiedensten Gründe: Beruf, Partnerschaften, Trennungen oder einfach Abenteuerlust. Aber der Mensch ist ein soziales Wesen und versucht in der Regel, sich Begleiter zu suchen, die ähnliche Interessen verfolgen oder emotionale Bedürfnisse stillen. Doch Freundschaft ist bei Weitem nicht dasselbe wie Verwandtschaft, ergaben wissenschaftliche Analysen.
Das Sprichwort: »Blut ist dicker als Wasser« scheint angesichts der aktuellen Studie immer noch eine Berechtigung zu haben. Und diese Verbundenheit bleibt ein Leben lang. Trotz aller Streitereien, Familienzwistigkeiten und familiärer Uneinigkeit, ja selbst wenn jeglicher Kontakt abgebrochen wird. Das ist auch gut so und senkt sogar das Sterberisiko, wie Soziologen nun bestätigen. Für Freundschaften gilt das nicht. Bei älteren Erwachsenen, die mehr Familienmitglieder in ihrem sozialen Netzwerk haben oder eine besonders enge Bindung zu Verwandten pflegen, sinkt das Sterberisiko. Diese Ergebnisse wurden im Fachartikel »Social Relationships and Mortality in Older Adulthood« (Soziale Beziehungen und Sterblichkeit bei älteren Erwachsenen) auf dem 111. Jahreskongress der »American Sociological Association« im August dieses Jahres präsentiert.
»Wir stellten fest, dass ältere Erwachsene im Alter zwischen 57 und 85 Jahren, die mehr Familienmitglieder in ihrem Netzwerk hatten oder eine besonders enge Bindung zur Familie, wahrscheinlich länger leben«, erklärt James Iveniuk, Haupt-Autor der Studie und Postdoktorand an der Universität von Toronto. »Diese Zusammenhänge konnten wir bei Freundschaften nicht beobachten.«
Die Senioren hatten - abgesehen von den Ehepartnern - durchschnittlich drei Vertrauenspersonen genannt. Dabei gaben die ältesten Teilnehmer an, sehr viel Unterstützung aus ihrem sozialen Umfeld zu erhalten. Die meisten der Befragten waren verheiratet, bei guter körperlicher Gesundheit und fühlten sich nicht sehr einsam. James Iveniuk und Co-Autor L. Philip Schuf, ein Biostatistiker von der Universität Chicago, stellten fest, dass ältere Erwachsene, die sehr enge Beziehungen zu den genannten familiären Vertrauenspersonen pflegten, ein Sterberisiko von sechs Prozent innerhalb der nächsten fünf Jahre hatten. Bei Menschen mit weniger engen Familienbeziehungen stieg das Sterberisiko innerhalb dieses Zeitraums auf 14 Prozent.
Insgesamt war das Sterberisiko für Senioren geringer, wenn sie viele direkte statt angeheiratete Verwandte in ihrem sozialen Netzwerk hatten. Allerdings sind die Wissenschaftler davon überzeugt, dass soziale Kontakte und Beziehungen zu anderen Menschen die Lebenserwartung generell erhöhen. Überrascht waren sie, dass enge Familienbeziehungen und Vertrauensverhältnisse mit direkten Verwandten das Sterberisiko in einem derart hohen Maß senken und ähnliche Bindungen zu Freunden nicht diese Auswirkungen haben.
»Weil man Freunde ja selbst wählt, würde man erwarten, dass freundschaftliche Beziehungen wichtiger für die Sterblichkeit sind, denn Freundschaften schließt man nach persönlichen Vorlieben und sozialen Bedürfnissen«, sagt Iveniuk. »Aber diese Annahme wird nicht durch unsere Daten gestützt; es sind gerade die Menschen, die wir ebenso wenig selbst auswählen können wie sie uns, die den größten Vorteil für Langlebigkeit bringen.«
Neben dem Vergleich von Freundschaften und Familienbeziehungen, untersuchte die Studie auch die charakteristischen Merkmale eines sozialen Netzwerks im Allgemeinen sowie dessen Einfluss auf die Sterblichkeit. Die vier Faktoren, die sie am stärksten zu senken vermochten, sind die Ehe, ein großes soziales Netzwerk, die Mitarbeit in sozialen Organisationen sowie eine enge Verbundenheit zu den Vertrauenspersonen. Alle Faktoren sind ungefähr gleich wichtig für die Lebenserwartung. Als weniger wichtig zeigten sich die gemeinsam verbrachte Zeit mit den Vertrauenspersonen, der Zugang zu sozialer Unterstützung und das Gefühl von Einsamkeit.
»Ich hatte erwartet, dass der Zusammenhang zwischen Teilnahme an sozialen Organisationen und Sterblichkeit erheblich abnehmen würde, wenn wir andere Aspekte des sozialen Umfelds mitbrachten, doch das passierte nicht«, erklärt Iveniuk. Interessanterweise hatte die Ehe positive Effekte auf die Langlebigkeit, unabhängig von der Qualität der Verbindung. »Wir konnten nicht beobachten, dass sich unterstützende Maßnahmen des Ehepartners auf die Sterblichkeit auswirken. Das deutet an, dass zwar die Ehe allgemein wichtig ist für eine Langlebigkeit, aber weniger einzelne Aspekte der ehelichen Verbindung«, sagt Iveniuk.
Allgemein unterstreichen Iveniuks Studienergebnisse die grundlegende Wichtigkeit familiärer Bindungen für die Lebenserwartung. »Seit den Anfängen der allerersten soziologischen Theorien haben viele verschiedene Denker bemerkt, dass es irgendeine spezielle Bedeutung gibt, die Menschen ihren Familienbeziehungen zuordnen. Das sorgt gleichzeitig dafür, dass man mit Menschen in Kontakt bleibt und sie unterstützt, um die man sich nicht unbedingt kümmern würde, wenn man die freie Wahl hätte«, meint Iveniuk.
Und auch wenn jeder von uns Familienkrisen kennt, erlebt wie Freundschaften zerbrechen oder Beziehungen jeglicher Art scheitern: Familienbande - schön und schrecklich zugleich - geben uns Sicherheit, gerade weil man sie nicht einfach »kündigen« kann. Was Familienbeziehungen und auch verlässliche Freundschaften auf jeden Fall benötigen, ist Zeit. Zeit, die wir manchmal nicht aufbringen können oder wollen, denn das ist anstrengender als Freundschaft und Beziehung 2.0. Hier reicht ein Mausklick, um sie herzustellen - aber genauso schnell ist es wieder vorbei. Virtuelle Freundschaften erfordern nicht unbedingt »Beziehungsarbeit«. Sie sind dafür auch äußerst unverbindlich und schnelllebig. Wer aber ab und zu eine echte Schulter zum Ausweinen braucht oder jemanden, mit dem man die glücklichsten Momente im Leben teilen kann, sollte Familien- und Freundschaftsbande ein wenig pflegen.
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