»Diese Politik ist eine Zumutung für Einheimische und Migranten«
Der Wirtschaftsforscher Gustav Horn über neoliberale Politik und Nationalismus, Milliardenausgaben für Flüchtlinge und die Mär vom verschwundenen Geld
Herr Horn, in Deutschland und anderswo blühen Nationalismus und Migrantenfeindlichkeit. Viele Europäer fühlen sich mittlerweile von den Flüchtlingen bedroht, behauptet EU-Ratspräsident Donald Tusk. Zu Recht?
Aus wirtschaftlicher Sicht sind die Flüchtlinge keine Bedrohung, weder für den Staat, noch für die Bürger. Im Gegenteil. Wirtschaftlich profitiert Deutschland davon, wenn wir die Flüchtlinge integrieren. Natürlich birgt die Migration auch Risiken. Die Terrororganisation Islamischer Staat versucht, Mitglieder unter Migranten zu gewinnen. Darauf muss der Staat mit einer durchdachten polizeilichen Sicherheitspolitik reagieren - die ohnehin nötig ist. Es ist nämlich eine Illusion, dass man die Grenzen komplett dicht machen kann.
Aber zunächst einmal muss die Gesellschaft geflüchteten Menschen helfen, auch finanziell. Die CSU warnt deshalb vor einer Überforderung des Staates.
Selbstverständlich kostet es Geld, die Menschen zu integrieren. Diese Summen kann der deutsche Staat aber ohne Weiteres aufbringen. Nach unseren Berechnungen muss die Politik in den ersten Jahren dafür rund 20 Milliarden Euro pro Jahr einsetzen. Was oft übersehen wird: Das Geld verschwindet nicht in irgendeiner Grube. Flüchtlinge geben Geld aus, auch wenn sie arbeitslos sind. Sie kaufen ein. Davon profitiert der Einzelhandel. Die Nachfrage nach Sicherheitsdiensten und Bauleistungen steigt durch Zuwanderung. Das schafft Arbeitsplätze. Viele Migranten machen sich nach einiger Zeit selbstständig und eröffnen kleine Läden oder Restaurants. So entstehen Wachstum, Einkommen und Steuereinnahmen. Die Hälfte der 20 Milliarden Euro fließt nach unseren Berechnungen wieder an den Staat zurück, weil die Wirtschaftsleistung durch Migration wächst.
Viele Politiker, nicht nur der AfD, wollen Migranten aber möglichst wenig Geld geben. So lehnt die CSU eine sogenannte Zuwanderung in das deutsche Sozialsystem ab. Arbeitslose Einwanderer sind demnach unerwünscht. Wenn die Menschen einen Job finden, ist es aber auch nicht unbedingt gut, dann heißt es schon mal: Die Ausländer nehmen den Deutschen die Jobs weg.
Nun ja, die Schlussfolgerung lautet dann: Die Menschen sollen erst gar nicht kommen. Das ist inhuman und wirtschaftlich einfältig. Das Problem sind nicht die Flüchtlinge. Das Problem ist, dass Politiker wie Kanzlerin Merkel das Konzept einer marktkonformen Demokratie vertreten. Diese Politik ist eine Zumutung für die breite Masse der Bevölkerung, für Einheimische und Migranten. Gleichzeitig wird der Eindruck vermittelt, dass es keine Alternative zu der sogenannten marktkonformen Demokratie gibt, und die Bürger durch Wahlen kaum etwas ändern können.
Und deswegen grassieren Nationalismus und Feindlichkeit gegenüber Migranten?
Ich sehe dafür vor allem zwei Gründe. Manche Menschen haben Angst vor dem kulturell Fremden. Diese Angst ist gerade in Gegenden verbreitet, in denen es nur sehr wenige Flüchtlinge und andere Migranten gibt, zum Beispiel in ländlichen Regionen. Was noch wichtiger ist: Die deutschen Regierungen haben von den Bürgern in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder verlangt, ihre Ansprüche zurückzuschrauben. Ständig hieß es: Hierfür ist kein Geld da, dafür ist kein Geld da. Es gab massive Kürzungen im Sozialsystem. Die Politik hat den Arbeitsmarkt dereguliert und den Lohndruck enorm verschärft. Die Kaufkraft der Mittelschicht stagniert seit über zehn Jahren. Die Aufstiegswahrscheinlichkeit sinkt, das vernichtet Hoffnungen und Perspektiven. Wenn in einer solchen Situation viele Menschen nach Deutschland kommen und der Staat für diese Leute Geld ausgeben muss, dann ist der Schritt nicht groß zu sagen: Für die ist Geld da und für mich war die ganze Zeit kein Geld da.
Sie meinen, dass die neoliberale Politik der vergangenen Jahrzehnte Parteien wie der AfD den Weg geebnet hat?
Ich behaupte nicht, dass die neoliberale Politik dies intendiert hat. Sie hat aber den Boden bereitet, auf dem der Nationalismus gewachsen ist. In Deutschland ebenso wie in anderen europäischen Ländern und in den USA. Die Regierungen haben über Jahrzehnte von der breiten Masse der Menschen Opfer verlangt, viele fühlen sich unfair behandelt und sind zornig. Dieser Zorn richtet sich nun gegen Fremde.
Nicht nur die CDU, auch SPD und Grüne haben mit ihren Arbeitsmarkt-Reformen einen marktliberalen Kurs eingeschlagen. Sind sie mitverantwortlich für das Erstarken des Nationalismus?
Die Sozialdemokratie hat sich vor zehn Jahren sehr stark dem Zeitgeist hingegeben. Insofern trägt sie eine Mitverantwortung. Auch die Linkspartei hat in Bundesländern mitregiert und beispielsweise in Berlin eine Sparpolitik mitgetragen. Das macht es einer Partei wie der AfD, die noch nirgendwo Verantwortung getragen hat, leicht. Sie kann einfach behaupten: Wir machen alles anders.
Großbritannien hat - anders als Deutschland - bereits 2004 seine Grenzen für Bürger aus den neuen mittel- und osteuropäischen EU-Staaten geöffnet, insbesondere Polen sind danach als Arbeitsmigranten auf die Insel gekommen. Zunächst galt Großbritannien als Beispiel für eine gelungene Politik der offenen Grenzen. Nun hat eine knappe Mehrheit der Briten für den EU-Austritt gestimmt und damit für eine restriktive Einwanderungspolitik. Brexit-Befürworter hatten zuvor massiv Stimmung gegen Migranten gemacht. Wie erklären Sie den Umschwung?
Man darf Migration nicht blauäugig sehen. Sie muss von einer angemessenen Wirtschaftspolitik begleitet sein. Wer Offenheit will, muss den Menschen Sicherheit geben, auch soziale Sicherheit. Auch die britische Regierung hat den Bürgern viel zugemutet, wachsende Armut, extrem unsichere Jobs, beispielsweise sogenannte Null-Stunden-Verträge, bei denen die Menschen nur dann eine Vergütung erhalten, wenn der Auftraggeber Arbeit für sie hat. Nach der Finanzkrise 2007/2008 sind dann auch noch die Reallöhne in Großbritannien stark gesunken, um rund zehn Prozent. In dieser Situation gleichzeitig Offenheit von den Bürgern zu verlangen, das funktioniert auf Dauer nicht.
Sie sagen: Die neoliberale Politik hat den Boden für nationalistische Parteien bereitet. Nun fordert die AfD selbst keine Abkehr vom Neoliberalismus.
Das stimmt, die AfD ist selbst neoliberal.
Die Partei verlangt zum Beispiel, die Vermögen- und Erbschaftsteuer ganz abzuschaffen und postuliert in ihrem Grundsatzprogramm: Je mehr Wettbewerb und je geringer die Staatsquote, desto besser für alle. Für wen wäre das tatsächlich besser?
Das wäre besser für diejenigen, die den Staat nicht brauchen, weil sie selbst wirtschaftlich stark genug sind. Diejenigen, die wirtschaftlich schwächer sind, würden darunter leiden.
Die Opfer des Neoliberalismus wählen eine neoliberale Partei?
Einige tun das, ja. Erfreulicherweise nicht alle.
Sie fordern soziale Sicherheit, um die Migrantenfeindlichkeit zurückzudrängen. Warum geht insbesondere die SPD nur winzige Schritte in diese Richtung?
Nötig sind grundlegende Änderungen. Beschäftigte müssen wieder stärker am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben, sprich, die Menschen brauchen höhere Löhne. Die soziale Absicherung muss deutlich besser werden, insbesondere müssen die Menschen darauf vertrauen können, dass sie im Alter gut abgesichert sind. Es geht nicht nur um ein Minimalniveau, die Bürger müssen von ihrer Rente einigermaßen gut leben können. Gerade das Rentenniveau von Geringverdienern ist in Deutschland viel niedriger als in anderen Ländern. Hier müssen wir uns etwas einfallen lassen. Auch Arbeitslose müssen deutlich stärker gefördert werden. All das ist möglich. Es sind aber durchaus radikale Änderungen. Und die Auseinandersetzungen darum würden sehr hart sein.
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