Kiew hat keine Wahl mehr
Auch EU und USA drängen zunehmend auf die Umsetzung der politischen Vereinbarungen von Minsk
Seit dem 22. September werden an der Grenze zwischen dem von Kiew kontrollierten Gebiet und den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk die Tage gezählt. Laut dem von der Kontaktgruppe in Minsk vereinbarten »Entflechtungsabkommen« haben die Truppen der beiden Konfliktparteien in drei Abschnitten der Demarkationslinie 13 Tage, um auf Abstand gebracht zu werden. »Zu diesen 13 Tagen sollen sieben Tage der Stille gehören«, sagt Jewhen Martschuk, Vertreter der Ukraine in der Sicherheitsgruppe von Minsk. »Mindestens sieben Tage soll es dort keinen Beschuss geben. Und wenn doch, dann muss definitiv festgestellt werden, wer begonnen hat.«
Im Idealfall sollen auf die ersten drei »Sicherheitszonen« an der Demarkationslinie noch sieben weitere folgen. So sieht zumindest die schöne Theorie aus. »Ich sehe die Stille in den Sicherheitszonen nicht optimistisch«, betont Martschuk. »Und doch haben wir zumindest zum ersten Mal die Mechanismen vorgeschrieben, wie das Vereinbarte umgesetzt werden soll. Wir haben vereinbart, was eine Verletzung des Abkommens ist und wie wir die schnell neutralisieren können.« Außer der OSZE-Sondermission werden die Verletzungen von einem gemeinsamen Koordinationszentrum, zu dem Vertreter der Ukraine, Russlands und der Separatisten gehören, beobachtet.
Es ist völlig unklar, ob die neuen Friedenspläne von Minsk vollständig oder zumindest teilweise funktionieren werden. Allerdings ist es offensichtlich, dass seit dem jüngsten Besuch des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier und seines französischen Amtskollegen Jean-Marc Ayrault in Kiew die Entwicklungen rund um den seit über zwei Jahren umkämpften Donbass einen neuen Impuls bekommen haben. Die damals vereinbarte einwöchige Waffenruhe hielt zwar nicht länger als bis zu Steinmeiers Abreise aus der Ukraine, doch die Verhandlungen der letzten Wochen bieten Hoffnung auf eine gewisse Entspannung.
Allerdings wird das aktuelle Engagement Deutschlands und Frankreich im politischen Kiew eher mit Skepsis wahrgenommen. Denn sowohl Ayrault und Steinmeier als auch US-Präsident Barack Obama bei einem Treffen mit seinem ukrainischen Kollegen Petro Poroschenko drängten die Ukraine, mit der Umsetzung des politischen Teils des Minsker Abkommens langsam zu beginnen. Konkret heißt es, dass das ukrainische Parlament parallel zum laufenden »Entflechtungsabkommen« mit der Verabschiedung des Sondergesetzes zu den Wahlen im Donbass und mit Verfassungsänderungen zum Sonderstatus der Region beginnen soll.
»Von unseren internationalen Partnern erwarten wir Unterstützung - und nicht Forderungen, gegenüber dem Aggressor nachzugeben«, sagte der ukrainische Vizepremier Stepan Kubiw am Rande des Kiew-Besuchs von Steinmeier und Ayrault. Zuvor weigerte sich die Ukraine, über den Sonderstatus des Donbass zu diskutieren, bis Kiew die Kontrolle an der Grenze zu Russland wieder übernimmt.
Doch nun kann es für die Ukraine deutlich schwieriger werden. Denn wenn das »Entflechtungsabkommen« in drei ersten Sicherheitszonen tatsächlich funktioniert, ist Kiew in der Pflicht, Fortschritte bei der Erfüllung des politischen Teils des Minsker Abkommens zu erreichen. Das Problem dabei: Die meisten Parteien in der Werchowna Rada sind bisher strikt dagegen.
Dabei wird mittlerweile vor allem über die »Steinmeier-Formel« diskutiert. Der Vorschlag Deutschlands besteht darin, das Sonderstatus-Gesetz für den Donbass vorläufig in Verbindung mit der Abhaltung der Lokalwahlen zu bringen. Das Gesetz würde schließlich voll in Kraft treten, wenn das Minsker Abkommen komplett erfüllt wird. Konkret würde dies Folgendes bedeuten: Die Werchowna Rada stimmt für das Wahlgesetz und für das erneuerte Sonderstatus-Gesetz, die dann erst vorübergehend in Kraft treten. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass das Minsker Abkommen in den kommenden Monaten komplett umgesetzt wird. Doch könnten sich die Konfliktparteien auf die Austragung der Wahlen konzentrieren - und damit einen ersten großen Schritt machen.
Moskau ist offenbar mit einem solchen Plan grundsätzlich einverstanden. Für den ukrainischen Präsidenten Poroschenko wird es allerdings schwierig, in den eigenen Reihen dafür zu werben. »Im Grunde genommen hat Kiew aber keine Wahl mehr. Die Position der westlichen Verbündeten ist klar und deutlich«, kommentiert der Politologe Wadym Karasjow gegenüber dem Portal Strana.ua. »Poroschenkos Gegner werden sehr laut. Es ist aber die Zeit gekommen, das zu erfüllen, was von der Ukraine abhängt.«
»Es ist nicht so, als würden Europa und der Westen die Ukraine nicht mehr unterstützen«, sagt der ukrainische Experte Mychajlo Pogrebynskij. »Europa zeigt jedoch, dass seine Geduld nicht grenzenlos ist. So langsam muss Kiew tatsächlich Schritte in Richtung der Erfüllung des politischen Teils des Minsker Abkommens machen.« Vom neuen »Entflechtungsabkommen« erwarten die meisten Beobachter allerdings nicht viel. Denn es geht erst einmal um drei Abschnitte der Demarkationslinie, wo die Kämpfe ohnehin nicht stark waren. Doch wenn alles am Ende mehr oder weniger funktioniert, könnte ein wirklicher Durchbruch bei den Verhandlungen deutlich näher rücken.
Zuvor geht es aber für die Administration von Poroschenko darum, mit Hilfe ausländischer Botschaften auf Stimmenfang im ukrainischen Parlament zu gehen. Es wird für den 51-Jährigen nicht leicht, für den Sonderstatus für den Donbass - sei es auch vorübergehend nach der »Steinmeier-Formel« - zu werben.
Während Poroschenko auf die Unterstützung der Vaterlandspartei von Julia Tymoschenko und der Radikalen Partei von Oleh Ljaschko bereits jetzt verzichtet, könnten Verhandlungen mit anderen Fraktionen und Abgeordnetengruppen dennoch gelingen. Mit der Unterstützung der Bevölkerung darf der ukrainische Präsident jedoch nicht rechnen: Laut der neuen Umfragen des Zentr Rasumkowa sind nur 22,7 Prozent der Ukrainer für den Sonderstatus, 50 Prozent lehnen ihn dagegen ab.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!