Unter Anwohnern

Martin Leidenfrost über den Kampf gegen kläffende Vorhof-Köter, Migrantenstreichler und Victor Orbans Referendum

  • Lesedauer: 4 Min.

Ich warne vorweg, dass die folgenden Beobachtungen nur lose zusammenhängen, durch Motive wie »Nachbarschaft« und »Migration«, vor allen Dingen aber dadurch, dass sie von Ungarn handeln.

Da ist einmal dieses Liebespaar auf einem slowakischen Theaterfestival, das ich dauernd anglotzen muss. Die beiden sind blond, schön und slawisch, und ihre Liebe ist unwahrscheinlich. Die Frau ist eine Barfly in ihren Dreißigern, ein sexbewusst rauchendes Tresenwesen mit Katzenblick, eine PR-Frau slowakischer Nationalität. Der Mann ist ein leiser athletischer Engel in seinen Zwanzigern, ein serbischer Bodybuilder ungarischer Nationalität. Sie lernten einander im Sommer 2015 kennen. Angerührt von der humanitären Situation an der serbisch-ungarischen Grenze, ließen sie alles liegen, um den Flüchtlingen dort zu helfen. Sooft ich sie nun sehe, sitzen sie zusammen, trinken und rauchen. Er schweigt meistens, blickt mit seinen strahlend blauen Augen ins Leere, nie jedoch abwesend, immer von irgendwas erfüllt. Menschen wie diese Liebenden werden im heutigen Ungarn als »Migrantenstreichler« verhöhnt. Gedanke 1: Gerade weil ich nicht mehr zu den Migrantenstreichlern gehöre, muss ich neidfrei eingestehen, dass dieses Lager den edleren Menschenschlag anzieht.

Dann ist da die Kampagne zu Viktor Orbáns sonntäglichem Referendum gegen die europäische Flüchtlingsquote. Ich schnuppere nach Ungarn runter. Die Versammlungen, auf denen die Staatspartei quer durchs Land eine Powerpoint-Präsentation gegen Zuwanderung abspult, heißen wörtlich übersetzt »Anwohnerforen«. Was hier ausklingt, ist ein vollwertiger Wahlkampf zur Halbzeit der Legislaturperiode. Verschont ist nur die Umgebung der Mutterkirche des ungarischen Katholizismus, der Rest des schmucken Städtchens Esztergom ist mit Plakaten tapeziert. »Gehen wir kein Risiko ein!«, steht auf den Farben der Trikolore, »stimmen wir mit NEIN!« Die Parole wiederholt sich auf unzähligen kleinen Plakaten. Die Opposition ist mindestens so präsent: »Dumme Frage, hier ist die Antwort! Wer zuhause bleibt, wählt Europa!« Oder: »Zuhause bleiben! In Europa bleiben!« Gedanke 2: Wer 2015 in Deutschland war, bekam von Medien und Staatsparteien eine Refugees-Welcome-Massage verabreicht. Ungarn 2016 ist das verzerrte Spiegelbild dazu.

Schließlich ist da ein Nachbarschaftsstreit von universeller Strahlkraft. Ich fahre über die Donaubrücke zurück, in die slowakische Schwesterstadt Štúrovo. Der Streit hat keinen ethnischen Subtext, denn Štúrovo ist zu 68 Prozent ungarischsprachig und alle Beteiligten sind ungarische Muttersprachler. Auch dieser Konflikt begann mit einem Zuzug: Die Inhaberin eines gut gehenden Möbelladens kaufte ein ungewöhnlich großes Haus in der sonst ärmlichen Kossuth-Straße. Diese Eva N. konnte nicht ertragen, dass der Hund der Nachbarin fortwährend kläffte. Zureden half nicht, also begann sie den Vorhof-Köter im Jahr 2000 mit klassischer Musik zu übertönen. Ab 2003 spielte sie nur noch eine einzige Arie, anderthalb Minuten Placido Domingo, zwölf Jahre lang dieselbe Arie von einem rauschenden Band. Da Eva N. Nachtruhe und 50-Dezibel-Grenze einhielt, mussten die Anwohner hilflos zuhören. Eva N. selbst wurde zum Phantom, viele Nachbarn bekamen sie nie zu Gesicht; sie äußerte sich ausschließlich in Blogs, in denen sie die »Dummheit« des »Abschaums« von Štúrovo geißelte. Erst 2015 drehte sie die Boxen ab.

Als ich eintreffe, wirkt die Kampfzone leblos. Heruntergelassene Rollos, der Vorgarten des »singenden Hauses« vertrocknet. Ich klingle bei den Nachbarn von links. Die Einfahrt am Gartenzaun ist ungenutzt, Blumentöpfe in gezirkelten Abständen. Begleitet von zwei kleinen Kläffern, kommt Frau P. vor die Tür. Die hagere Alte mit den braun gefärbten Augenbrauen ist eine Schlüsselfigur des Konflikts: Irgendwann starb nämlich der Kläffer der Nachbarin von rechts, in dieser Phase drehte Eva N. die Musik ab. Ich frage die Nachbarin von links, was ich nicht fassen kann: »Wie konnten Sie sich in dieser Situation der Ruhe ausgerechnet einen Hund zulegen?« Frau P. antwortet schnippisch: »Warum sollten wir keinen Hund haben? Rundherum haben hier alle Hunde.« Ich frage sie weiter: »Haben Sie nie überlegt wegzuziehen?« Da wird die sonst gestenarme Ungarin von Bewegungen durchschüttelt: »Nie!« Gedanke 3: Auch wenn diese Nachbarn innerlich verrecken - sie gehen nicht weg.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.