Aktenschreddern? Nicht verfahrensrelevant

Eine der Anklägerinnen im NSU-Prozess wurde vom Bundestagsausschuss gehört - es bleiben wieder einmal mehr Fragen als Antworten

  • René Heilig
  • Lesedauer: 7 Min.

Spätestens seit Frühjahr 2013 steht Anette Greger im Rampenlicht. Sie ist Oberstaatsanwältin, 50 Jahre alt und eine von vier Vertretern der Karlsruher Bundesanwaltschaft im Prozess gegen Beate Zschäpe und die anderen NSU-Terrorverdächtigen. Greger führte die Ermittlungen gegen Zschäpe, versucht nun - gemeinsam mit ihren Anklägerkollegen - deren Mittäterschaft an der Terrorserie zu beweisen. Als der Prozess begann, lagen 280 000 Seiten Ermittlungsakten vor, aus denen eine 488-seitige Anklageschrift filtriert wurde. Es geht um zehn rassistisch motivierte Morde, zwei Sprengstoffanschläge, 15 Raubüberfälle.

Schon beim Staatsexamen in Bayreuth soll sie einst unter 900 Kandidaten im vorderen einstelligen Bereich gelandet sein. Und sie war eifrig dabei, durch gute Arbeit Karriere zu machen. 2007 hatte man die - wie ein Gerichtspräsident aus Weiden damals sagt - »begabteste Juristin der Oberpfalz« zur obersten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungstruppe geholt. Die schafft das, hieß es 2013 im Karlsruher Ermittlungsreferat, als der NSU-Prozess begann.

Und nun? Sicher, im Großen und Ganzen ist alles klar. Die, wie Greger sagt, »beiden Verstorbenen«, also Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, brachten zwischen 2000 und 2007 Menschen um, legten Bomben, überfielen Banken und Supermärkte, Zschäpe sorgte für die bürgerliche Fassade der in aller Öffentlichkeit lebenden Terrortruppe. Auch wenn daran kein vernünftiger Zweifel besteht - für ein juristisch sauberes Urteil muss man, gerade weil im Wortsinn kein Geständnis der Trio-Überlebenden Beate Zschäpe vorliegt, so viele Beweise wie möglich vorlegen. Erschwerend kommt hinzu, dass es auch keine Zeugen gibt, die irgendetwas Brauchbares zu den - wie Greger sagt - »Hinrichtungen« der Menschen sagen können.

Was Greger und Kollegen vorlegen, sind in der Mehrzahl Indizien. Die Oberstaatsanwältin kennt sie alle, sie ist akribisch und in der Tat wiegen viele dieser Indizien schwer. Doch Greger, die in der vergangenen Woche als Zeugin vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages gehört wurde, weiß vermutlich besser als jeder andere Ermittler, wie viele offene Fragen es zur Terrortruppe NSU noch gibt. Den Satz auszusprechen, fiel der ehrgeizigen Oberstaatsanwältin gewiss nicht leicht, doch sie sagte ihn bei der Befragung durch die Parlamentarier - in Variationen - immer wider: »Wir müssen mit den offenen Fragen leben.«

Die Frage, wer hier denn »wir« sei, stellte niemand. Nicht gemeint sein können die Angehörigen der Opfer, die noch immer nicht wissen, warum ihre Männer, Väter oder Freunde als Opfer ausgewählt wurden. Auch die Familien, Kollegen und Freunde der beiden in Heilbronn attackierten Polizisten werden damit kaum zufrieden sein. Michèle Kiesewetter kam dabei um. Reicht ihrem schwer verletzt überlebenden Kollegen Martin Arnold die Auskunft, er sei ein »Zufallsopfer« gewesen?

Man ermittle im NSU-Komplex gegen neun Beschuldigte. Und gegen Unbekannt, denn es könne ja sein, dass beim Prozess etwas zur Sprache komme, das zu weiteren Straftaten, zu weiteren Tätern und zu weiteren Unterstützern führt, sagt die Anklägerin - und vermag damit niemanden zu überzeugen. Wohl aber wird in den vier Stunden ihrer Befragung auch klar, warum es so viele offene Fragen gibt. Die Bundesanwälte wollten den skandalösen Fall staatlichen Versagens bei der Abwehr von Rechtsterroristen möglichst rasch anklagen. Und dabei den Kreis der Verdächtigen eng begrenzen. Lass es nur kein Netzwerk sein! So mag ihre heimliche Bitte noch heute lauten.

Und so sammelte man eifrig alle belastenden Indizien gegen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sowie die anderen vier angeklagten Nazi-Figuren. Das Umfeld verschwamm bis zur puren Unschärfe. Gerade da gibt es also »jede Menge offene Spuren«, gibt Greger zu.

Die Forensik spielte bei den Ermittlungen eine große Rolle. »Wir haben viel gefunden«, sagt Greger. Stimmt. Was man allerdings nicht gefunden hat, sind beispielsweise DNA-Spuren von Böhnhardt und Mundlos - tatsächlich: an 28 Tatorten nicht eine einzige. Auch keine Fingerabdrücke. Doch die DNA, die man fand und nicht zuordnen kann, wurde in ihrer Masse offenbar nicht abgeglichen mit der DNA von Verdächtigen aus dem Umfeld des NSU. Das gehe aufgrund der Gesetzeslage nicht.

Doch selbst, wo weitere Ermittlungen möglich wären, stellte man sie nicht an. Ein Beispiel ist die Spur »P 46«: In dem Wohnmobil, das Böhnhardt und Mundlos für ihren letzten Sparkassenüberfall in Eisenach genutzt haben und in dem auch ihre Leichen gefunden wurden, entdeckte man eine Socke. Daran befand sich die DNA von Zschäpe und von einem Unbekannten - dessen DNA aber beim BKA gespeichert ist. An drei Tatorten in Berlin, Hessen und in Nordrhein-Westfalen sicherte man diese unverwechselbaren Spuren. Dort hatte eine Bande der organisierten Kriminalität aus Litauen Überfälle verübt. Und was taten das Bundeskriminalamt unter Anleitung durch die Bundesanwaltschaft? Nichts.

Ist den Ermittlern das Folgende wirklich unbekannt? Am 5. Oktober 1999 hatten ehemalige Mitglieder des »Thüringer Heimatschutzes«, aus dem die Rechtsterroristen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe entwuchsen, in Pößneck einen Geldtransporter überfallen. Sie erbeuteten 78 000 DM und investierten in die Übernahme eines Bordells. Der Tätergruppe in Pößneck gehörten acht Personen an, darunter drei Litauer. Einer der Haupttäter gehörte sogar zu einer litauischen Polizeispezialeinheit. Die Neonaziszene aus dem Raum Saalfeld-Rudolstadt war zu jener Zeit - und ist es sicher noch immer - eng mit dem Rotlichtmilieu vernetzt, auch nach Litauen und Österreich. Es mag ja sein, dass das alles mit jener Socke aus dem Wohnmobil nichts zu tun hat. Doch ohne Nachforschungen kann man das eben nicht sicher sagen.

Vielleicht könnte man auch herausfinden, von wem die DNA auf zahlreichen Patronen - Spur »P 62« - stammt, die in der Wohnung des Terrortrios gefunden wurden. Wenn man sie untersuchen würde. Gleiches gilt für fremde DNA-Spuren auf der Uniform des schwer verletzten Polizisten Arnold. An dem Mordanschlag auf die Polizisten waren mit Sicherheit mehr als zwei Täter beteiligt. Doch das sei - Logik hin oder her - »eine reine Bewertungsfrage«, sagt die Ermittlerin. Dabei sieht auch sie die Besonderheit des Anschlages auf dem sehr belebten Parkplatz mitten in Heilbronn. Zitat Greger: »Als Täter hätte ich den Tatort und die Tatzeit niemals so gewählt.«

Auch der Tatort in der Kölner Probsteigasse, wo die NSU-Killer in einem Lebensmittelladen eine Bombe abgestellt haben sollen, die im Januar 2001 detonierte und eine 19-Jährige schwer verletzte, gibt Rätsel auf. Zumal die damalige Chefin des NRW-Verfassungsschutzes auf dem Phantombild einen ihrer V-Männer erkannt haben wollte. Doch man legte den Opfern zur Identifizierung nur ein altes Foto des möglichen Täters vor, dass zudem retuschiert wurde. Auch bei späteren Hinweisen auf diesen Mann untersagte die Bundesanwaltschaft weitere Ermittlungen. Sie hatte ja bereits in die Anklageschrift geschrieben, dass Böhnhardt und Mundlos schuldig sind.

Es gibt eine Anweisung von Oberstaatsanwältin Greger, die von Weitblick geprägt gewesen zu sein scheint. Zehn Tage nachdem der NSU aufgeflogen war, verfügte sie, dass keinerlei Ermittlungswissen an den Verfassungsschutz weitergegeben werden darf. Denn es bestehe der Verdacht, dass der NSU der bewaffnete Arm »einer Partei sein oder einen Bezug zur organisierten Kriminalität« haben könnte. Und man wisse ja nicht, wie tief der Verfassungsschutz in solche Sachen involviert sei. Doch diese Anweisung hatte leider nicht lange Bestand.

Aber sie führt zum zweiten Zeugen, den der Untersuchungsausschuss am Donnerstag vernommen hat. Der Mann mit dem Arbeitsnamen Lothar Lingen ist jener ehemalige Referatsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der am 11. November 2011 in einer Schredderaktion die Akten von V-Leuten vernichtet hat. Er war stets wortkarg, doch bei einer Vernehmung durch das BKA hatte er 2014 sein Motiv für die Vernichtungsaktion erklärt. Es sei bereits damals »völlig klar« gewesen, dass die Öffentlichkeit angesichts der vielen Quellen, die der Verfassungsschutz in der Thüringer Naziszene platziert hatte, nie geglaubt hätte, dass der Geheimdienst nichts vom NSU gewusst hat. Im Gegenteil, schon die nackten Zahlen der V-Leute sprachen dafür, »dass wir wussten, was da läuft«.

Das Ermittlungsverfahren, das die Kölner Staatsanwaltschaft gegen Lingen wegen der Schredderei geführt hatte, wurde alsbald eingestellt. Es habe kein Vorsatz festgestellt werden können. Das ist seltsam. Doch obwohl der Beschuldigte in der Vernehmung die Straftat zweifelsfrei als vorsätzlich qualifizierte, haben Greger und ihre Kollegen von der Bundesanwaltschaft im Münchner NSU-Prozess einen Antrag abgelehnt, mit dem die Nebenklage im Münchner Prozess eben diesen Fall untersuchen lassen wollte. Das sei, so bekräftigte Zeugin Greger in den vergangenen Woche in Berlin abermals, »nicht verfahrensrelevant«.

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