Die Bürgerversicherung – politische Brücke für Rot-Rot-Grün?
Christoph Butterwegge über die allgemeine Bürgersozialversicherung, die den Weg zum inklusiven Sozialstaat ebnen kann
Um den Weg zu einem inklusiven Sozialstaat zu ebnen, der eine gleichberechtigte Partizipation aller Wohnbürger am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht, ist die Schaffung einer solidarischen Bürgerversicherung nötig. Es geht nicht wie beim bedingungslosen Grundeinkommen um einen Systemwechsel, sondern um eine genau durchdachte Weiterentwicklung des bestehenden Sozialsystems. Da SPD, Grüne und LINKE auf eine Bürgerversicherung orientieren, könnte diese – so unterschiedlich die konkreten Vorstellungen hierzu auch (noch) sind – eine programmatische Basis, wenn nicht eine politische Brücke für ein Dreierbündnis nach der nächsten Bundestagswahl bilden.
Zielprojektion für eine R2G-Koalition muss eine allgemeine, einheitliche und solidarische Bürgerversicherung sein. Allgemein heißt, dass sie im Sinne einer Bürgersozialversicherung sämtliche dafür geeigneten Versicherungszweige übergreift: Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung müssten gemeinsam und nach denselben Organisationsprinzipien umstrukturiert werden. Es ist nicht sinnvoll, die öffentliche Debatte über eine Bürgerversicherung auf einen Versicherungszweig zu beschränken, wie es viele Befürworter dieser Reformoption tun.
Christoph Butterwegge lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Er schreibt in unregelmäßigen Abständen fürs “nd”.
Einheitlich heißt hierbei, dass neben der gesetzlichen Bürgerversicherung keine mit ihr konkurrierenden Versicherungssysteme existieren dürfen. Private Versicherungsunternehmen müssten sich auf die Abwicklung bestehender Verträge (Bestandsschutz), mögliche Ergänzungsleistungen und Zusatzangebote beschränken. Damit bliebe ein weites Betätigungsfeld für die Privatassekuranz erhalten; ihre Existenz wäre also nicht gefährdet.
Solidarisch heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht bloß auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse) wären Beiträge zu erheben. Dies bedeutet aber nicht, dass Arbeitgeberbeiträge entfallen würden.
Nach oben darf es weder eine Versicherungspflichtgrenze noch Beitragsbemessungsgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen und sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte zu entziehen. Bei den Beitragsbemessungsgrenzen stünde zumindest eine deutliche Erhöhung an. Umgekehrt müssen jene Personen finanziell aufgefangen werden, die den nach der Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht entrichten können. Vorbild dafür könnte die gesetzliche Unfallversicherung sein. Dort dient der Staat quasi als Ausfallbürge für Landwirte, Unfall-, Zivilschutz- und Katastrophenhelfer sowie Blut- und Organspender, aber auch für Kinder in Tagesbetreuung, Schüler und Studierende.
Bürgerversicherung heißt, dass alle Wohnbürger aufgenommen werden, ob sie erwerbstätig sind oder nicht. Weder Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik blieben außen vor. Einerseits geht es darum, die Finanzierungsbasis des bestehenden Sozialsystems zu verbreitern, andererseits darum, den Kreis seiner Mitglieder zu erweitern.
Bürgerversicherung bedeutet schließlich, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt, also gewährleistet sein muss. Wer dazu finanziell in der Lage ist, muss Beiträge entrichten, um Ansprüche zu erwerben. Der Staat müsste sich mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau einer Bürgerversicherung beteiligen, auf öffentliche Haushalte kämen erhebliche finanzielle Belastungen zu. Diese lassen sich aber mithilfe einer sozial gerechteren, stärker an der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Bürger orientierten Steuer- und Finanzpolitik bewältigen.
Auf der Leistungsseite muss die Bürgerversicherung das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung beseitigen. Hierzu ist eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Mindestsicherung nötig, die alle Wohnbürger nach unten absichert, auch solche, die im bisherigen System keine ausreichenden Anwartschaften erworben haben.
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