Zeitgeschichten aus Südamerika
Zum zwölften Mal präsentiert sich »Venezuela im Film« in Frankfurt am Main
»Ach, in Venezuela werden auch Filme gemacht?« oder: »Venezolanisches Kino? Nur eine Randerscheinung!« - das etwa waren Kommentare, die man vor nicht allzu langer Zeit noch hören konnte. Insidern war allenthalben der Spielfilm »Orinoko-Neue Welt« von Diego Risquez bekannt, der 1985 auf der Berlinale präsentiert wurde, mitunter auch das Drama »Sicario, die Gesetze der Straße« von José Ramón Novoa. Letzteres wurde 1996 in Spanien mit dem Goya als Bester Ausländischer Film in spanischer Sprache ausgezeichnet.
Zwanzig Jahre später sieht das ganz anders aus! Die venezolanischen Filmschaffenden haben sich inzwischen mit ihrem Label »Hecho en Venezuela« auf dem internationalen Podium positioniert. Erinnert sei nur an Lorenzo Vigas‘ Erstlingswerk »Caracas, eine Liebe«, das 2015 den Goldenen Löwen von Venedig erhielt. Für die venezolanische und lateinamerikanische Filmgeschichte überhaupt war das bisher der wohl größte Erfolg in Europa.
Das Festival »Venezuela im Film - Qué chévere« - eine Zusammenarbeit des Filmforum Höchst, des venezolanischen Generalkonsulats in Frankfurt am Main und des venezolanischen Filminstitutd CNAC - präsentiert die jüngste Erfolgsgeschichte des venezolanischen Kinos vom 3. bis 9. November in Frankfurt. Zum zwölften Mal öffnet sich das Fenster gen Venezuela.
Im Mittelpunkt der siebentägigen Filmschau steht »Caracas, eine Liebe«, mittlerweile für die Oskars 2017 nominiert. Der Film erzählt die ebenso spannende wie dramatische Liebegeschichte zweier Männer, die bezüglich Alter, sozialer Herkunft und sexueller Bedürfnisse unterschiedlicher nicht sein könnten. Das Drehbuch basiert auf einer Geschichte des mexikanischen Schriftstellers Guillermo Arriaga, dem Autor von »Amores perros«, »Babel« und »21 Gramm«.
Der Spielfilm »Liz im September« von Fina Torres ist der zweite Höhepunkt. Bereits mit ihrem ersten Spielfilm »Oriana« (1984) schuf die Grande Dame des venezolanischen Kinos eine starke Frauenfigur und prägte mit ihr das venezolanische Kino. Ihr aktueller Film basiert auf dem in den 1980er Jahren entstandenen Theaterstück »Last summer at Bluefish Cove« der US-Amerikanerin Jane Chambers, das als eines der ersten Bühnendramen lesbische Liebe offen thematisierte. Torres überträgt das Thema in die heutige Gesellschaft Venezuelas und daraus entspinnt sich eine feinfühlige Geschichte zweier junger Frauen, deren Liebe ein jähes Ende findet, noch bevor sie richtig beginnen konnte.
Ein dritter Höhepunkt ist der ethnologisch anmutende und ebenfalls für die Oscars 2017 nominierte Spielfilm »Der Schamane und die Schlange« von Ciro Guerra, eine kolumbianische Produktion in Kooperation mit Venezuela, die sich der indigenen Thematik widmet. Indes nicht aus der Sicht des Europäers: »In ›Der Schamane und die Schlange‹ ist die Perspektive des ursprünglichen Kolonialtextes verkehrt: Bei Guerra geht es um die kolonialen Erfahrungen des Indios; die weißen Reisenden sind lediglich Statisten.« (Andreas Busche, Die Zeit).
Die aktuelle Filmproduktion des südamerikanischen Landes charakterisiert sich auch durch die Verarbeitung der eigenen Geschichte, teils um sie kritisch zu beleuchten, teils um Ereignisse oder Persönlichkeiten vor dem Vergessen zu bewahren. Hier etwa das Spielfilmdebüt »El desertor« von Raúl Chamorro, das von realen Geschichten der 1960er und 1970er Jahre inspiriert ist. Es geht um Menschen, die während jener Epoche zur Militärpflicht gezwungen wurden und versuchten, aus den Kasernen zu fliehen, wo sie Misshandlungen und Erniedrigungen ertragen mussten; oder auch das zweite Spielfilmdebüt »El infierno de Gaspar Mendoza« (The hell of Gaspar Mendoza) von Julián Balam, das in das 19. Jahrhundert zurückgeht und den sogenannten Langen (Bürger-)Krieg in Venezuela in einem spannenden Horrorfilm aufarbeitet.
Hingegen einen dokumentarischen Blick auf die Zeitgeschichte wirft Juan Andrés Bello mit »Villanueva, El diablo« (Villanueva, the devil). »Villanueva...« ist eine Reise durch die Geschichte der Universität von Caracas, die das bedeutendste Werk von Carlos Raúl Villanueva, dem Maestro der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts, darstellt. Der Zuschauer wird Zeuge des Entstehungsprozesses dessen, was später zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt werden sollte.
Das an Themen und Genres vielseitige Festival wird am 3. November eröffnet mit dem Musikfilm »El malquerido« von Diego Risquez, mit dem sich der Regisseur dem Leben des venezolanischen Bolero-Sängers Felipe Pirela annähert. Der Film liefert gleichzeitig ein spannendes Panorama der Gesellschaft Venezuelas während der 1930er Jahre.
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