Europa im Herbst

Martin Leidenfrost beobachtete den Kontinent an der türkischen Riviera

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 4 Min.

Die letzte Oktoberwoche an der türkischen Riviera. 29 bis 30 Grad, am Ende einer miserablen Saison. Dies wird eine Skizze von Europa im Herbst, denn in Alanya lebt die größte europäische Kolonie. Skandinavier, Russen und Deutsche verbringen hier ganz oder zeitweise das, was man bei den meisten den Lebensabend nennen muss.

Mittags. Türkische Badetouristen senken den Altersschnitt, nur manche schleppen eine verschleierte Oma in Nylonstrümpfen mit. Eine abreisende Brandenburger Familie staunt weiter über den Preis der All-inclusive-Woche: »Alleene wieviele Schprait die Kleenen jetrunken haben!« Ausflugsschiffe fahren im Akkord um die felsige Festungs-Halbinsel. Die »Vikingen« ist am lustigsten, sie schaukelt am meisten, es gibt russische Schlager und man springt ins Meer. Das Filmen der schwimmenden Gattin per Tablet endet in einem russischen Ehestreit: »Oi, ich hab’s gelöscht.« - »Du hast gedrückt!« - »Ich hab nicht gedrückt, ich hab’s gehalten!« Am Kleopatra-Strand räkelt sich das schöne Geschlecht in die Kamera. Der liegende Mann hat ein Bäuchlein, die stehende Frau ist schwarz verschleiert und filmt ihn. Als ihn eine Welle überflutet, posiert er eitel weiter.

Abends in »Willi’s Kneipe«. Eine Runde alter Deutscher kuckt Formel-1-Qualifying. Einer ist laut T-Shirt ein stolzer Badener. Als sie gehen, wirkt es, als würden sie alle humpeln. Von hinten höre ich ein Gespräch auf Russisch. Eine Mittvierzigerin mit Abchasien-Kenntnis redet von Leuten, die »gegen Putin, gegen Russland« seien. Sie sagt: »Die Hälfte der Abgeordneten in unserem Parlament arbeitet der amerikanischen Botschaft zu.« Das Land muss ich erraten. Oberhalb der Marina was für Finnland-Nostalgiker. Abends darauf kucken sie im »Positiivesti Suomaleinen« das Formel-1-Rennen. Die Finnen sitzen wie Säulen da.

Nachts. Vor den Shisha-Tanzbars gibt es mehr gegelte Kellner als norwegische Backfisch-Duos. Eine Blondine läuft in weißem Minirock über den Basar. Zwei Verkäufer erraten ihre Muttersprache. »Darf man?«, rufen sie auf Russisch, »darf man?«

Sonntag. Die ökumenische Nikolaus-Gemeinde ist von weitem nicht als Kirche zu erkennen. Einmal im Monat ist katholische Messe auf Deutsch. Der deutsche Pfarrer betont, dass er in der Türkei »ohne Einschränkungen« wirken darf. Als ich ihn frage, ob er schon Menschen bekehrt hat, wird ihm schwarz vor Augen; ein missionierender US-Freikirchler hat Einreiseverbot. Vor der Tür ein Klapptisch mit Thermoskanne, dahinter halten eine Polizistin und ein Polizist Wache. Zur Messe kommen Touristen und Auswanderer, die Älteste ist 96. Ich sehe an ihnen die gefälschte Markenkleidung, aus den Alanyer Straßenläden. Ohne dass ich jemanden anspreche, schütten mir diese Alten das Herz aus. Eine »Byzantinerin ohne Muttersprache«, krim­jüdisch-greko­stambuler Herkunft, fällt bei der Kommunion auf die Knie und schluchzt. Eine Frau aus Bierfranken erzählt mir, dass ihre Wohnung in dritter Reihe liegt. Von der ersten Reihe rät sie ab, wegen der salzigen Meerluft, »da rostet sogar das Besteck in der Schublade«. Im letzten Jahr war sie selten hier, da es ihrer Schwester »so schlecht ging«. Die Schwester ist inzwischen tot. Die Frau beginnt zu weinen.

Sonntagabend. Dämmerung im Strandlokal, mit Blick die auf Bucht und Festungsmauer. Sieben Norweger und sieben Norwegerinnen feiern, auf der Tanzfläche vereinen sich die Paare. Ich sitze lesend dabei. Sie rühren mich, weil die Männer, obwohl sie sich mit ihrer norwegischen Rente junge Ukrainerinnen anlachen könnten, alle mit ihren ungelifteten Frauen hier sind, und weil sie sich dauernd für ihren Überschwang entschuldigen. Sie mieten immer ein Haus, April-Mai und September-Oktober. Als würden Tätowierungen heute noch etwas erzählen, zeigt mir einer den ausgebleichten Anker auf seiner Schulter: »Ich war Matrose. Aber ich kann nicht schwimmen.«

Ein Tanzender plärrt in »Bohemian Rhapsody« ekstatisch mit: »Mamma!« Als der Queen-Song leise wird, ruft der Muezzin rein. Sie beugen sich über ein Mini-Keybord mit Mundstück, zusammen mit dem türkischen Kellner entlocken sie ihm Harmonika-Töne. Völkerfreundschaft zwischen Nordrand und Südflanke der NATO. Die Zeche begleichen sie mit einem Scherz: »Können wir auch im Frühling zahlen?« Ausländer haben in Alanya 35 000 Wohnungen gekauft. Die Kommune hat für sie ein einzigartiges Gremium eingerichtet, den »Ausländerbeirat«. Den suche ich in diesen bewegten Zeiten auf.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -