Gespaltene Köpfe

Eine kleine Randnotiz zur Geschichte der Berliner Mauer. Von Dirk Werner

  • Dirk Werner
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Schwarzkopfstraße - die anderen Straßennamen weiß ich nicht mehr, und es ist ja Peter Weiss, der dieses kleine Geviert aus Straßen in »Die Ästhetik des Widerstandes« aufruft - war also eine der Straßen, durch die ich kam oder die ich rechts oder links liegen ließ, wenn ich zu meinem Friedhof ging. Ja, es war mein Friedhof, mein eigener, denn kaum ein anderer kam in den Monaten, da ich dort war, je hin. Ohne es zu wissen, hatte ich mich zu dieser Einsamkeit verurteilt: Neunzehnhundertsechsundachtzig war ich Friedhofsarbeiter der Berliner Domgemeinde geworden.

Die Abteilung Inneres des Stadtbezirks Lichtenberg hatte mich gedrängt, mir gedroht, mir endlich eine Arbeit zu suchen. Und nun lagen die Straßen nahe der Schwarzkopfstraße verlassen. Nur manchmal bog die Straßenbahn um die Ecke, die hier endete, die hier ihren Anfang nahm. Mit dieser Straßenbahn kam ich, in sie war ich am S-Bahnhof Marx-Engels-Platz umgestiegen, sie war es, die glaube ich die Nummer siebzig trug. Kaum jemand stieg hier noch aus, kaum jemand ein. Hier waren die Einsamkeit, das Verlorene, die Stille und das Geheimnis zu Hause. Direkt hinter der Häuserzeile, vor der die Bahn hielt, war mein Friedhof, der in Wahrheit nur einer von dreien war, die sich hier befanden. Ich war der Gärtner des Friedhofs des Berliner Doms, und wie allein ich hier war, zeigt der Umstand, dass ich nie einen Gärtner auf dem Friedhof der Französischen Gemeinde traf. Und selten jemand, der sich einem Grab zuwandte. Hier durfte seit Jahren niemand mehr beerdigt werden.

Dirk Werner

Dirk Werner wurde 1961 in Gera geboren und wuchs an der Ostsee auf. Zwei Jahrzehnte wohnte er in Berlin. Mitte der 1980er Jahre wurde er Friedhofsarbeiter der St.-Hedwigs-Gemeinde in der Liesenstraße in Berlin-Mitte - einer »Insel«, die an drei Seiten von der Berliner Mauer umschlossen war. Heute lebt Dirk Werner als Fotograf und Autor in Esslingen am Neckar. Texte von ihm erschienen u.a. in der »Stuttgarter Zeitung«, im »Eulenspiegel« und in »neues deutschland«

Wie in einem Märchen: Diese drei Friedhöfe waren gemeinsam von drei Seiten der Berliner Mauer eingeschlossen. Eine Exklave, die sich aus Ostberlins Stadtbezirk Mitte hinausschob in den Westberliner Stadtbezirk Wedding. Hinter einer dieser drei Mauerseiten konnte man die S-Bahn aus einem Tunnel herauf aufsteigen oder in diesen hinabfahren sehen. Dazu die vertrauten Töne, wie sie nur die Berliner S-Bahn hervorquietschen und hervorklappern kann. Die Geräusche benachbarten sich dem Friedhof der St.-Hedwigs-Kathedrale, über den ich fast eben so oft streunte wie über die anderen beiden Ansammlungen letzter Ruhestätten. Die S-Bahn quälte sich aus der Erde empor, fuhr über ein kleines Stück Brücke. Ich sah ihr nach. Die Bahn, ihr nächster Halt waren damals genauso weit entfernt wie Schweden von dem Ostseedorf, in dem ich aufgewachsen war.

Doch, nein, das war nicht die Schwarzkopfstraße. Mein Friedhof, mein eigener kleiner, grenzte an die Häuserrückseiten der Wöhlertstraße, so muss es richtig heißen, und ich musste erst über einen asphaltierten Flecken - den Wöhlertgarten - gehen, wenn ich die Friedhöfe, die eine gemeinsame kleine Pforte hatten, betreten wollte.

Wenn ich nicht Friedhofsarbeiter war, der ich halbtags war, nahm ich an Englischstunden in einer Volkshochschule teil. Jedoch, wollte man teilnehmen, musste man sich erst anmelden. Und wollte man sich anmelden, so musste man zunächst das Anstehen in einer sehr langen Schlange bewältigen. Alle diese Genossen vor einem - Schicksalsgenossen, nicht SEDler - wollten an einem Fremdsprachenkurs teilnehmen, jeder wollte gut gewappnet sein, wenn er in den Westen ging. Über die Jahre meines Wartens im Ostteil Berlins erwarb ich also meine Englischkenntnisse. Als dann eine amerikanische Reisegruppe - woher, weshalb und wie gekommen, weiß ich nicht - als Gäste einer Bekannten sich in deren Wohnung an der Boxhagener Straße versammelte, tauschte ich mit Joe, einem Joe Dummit, die Adressen aus. Dann eines Tages war er bei mir zu Hause in der Spittastraße zu Gast. Am Abend des Ankunftstages noch gingen wir im Jugendklub in Weißensee auf ein Konzert. Es spielten die Wund- und Spritzköpfe. Sie sangen unter anderem: »Es hat sich nicht gelohnt, wir leben hinterm Mond.« Noch am selben Abend entführte eine Punkerin meinen amerikanischen Besuch, so dass ich ihn bis zum Ende seines Ostberlin-Aufenthalts nicht mehr zu sehen bekam.

Noch bevor man durch den Wöhlertgarten hindurch zu den drei Friedhöfen gelangte, geriet man ans Ende der Wöhlertstraße. Neben einem Eckchen aus Mauerresten und einem ehemals schmiedeeisernen Zaun, der dank seines Rostes romantisch Haltung wahrte, lag das Büro des Friedhofarbeiters, für drei Jahre also meins. Ich betrat einen großen, staubigen, vielleicht seit dem Krieg nicht mehr gereinigten Raum, den seit Jahren kein Tageslicht mehr berührt hatte. Ein Tisch stand da, ein ehrwürdiger Stuhl, und ein Heiligtum, auf das ich zustürzte - ein Telefon. Bakelit. Vorsichtig nahm ich den Hörer, als ich zum ersten Mal diesen Raum betrat, und führte ihn an mein Ohr. Die Vergangenheit summte da in mich, ein Stückchen wie verbotener Zukunft. Hier also würde ich von Freunden aus Westberlin her angerufen werden können. Zu Hause hatte ich kein Telefon.

Bevor also eine Punkerin nach einem Konzert meinen amerikanischen Besuch, Joe Dummit, mit sich nahm, machten wir beide einen Ausflug. Wie naiv ich war - meine Ahnungslosigkeit damals spottete jeder Satire - beweist sich dadurch, dass ich Joe am Nachmittag vorher unbedingt meinen Friedhof zeigen wollte. Natürlich mit dessen drei Mauern. Im Vorfeld dieser strahlend weißen, hohen Bänder tummelten sich die Engel. Sie mit ihren löchrigen Flügeln, ihren gespaltenen Köpfen, den fehlenden Händen und Zehen bevölkerten das Trümmerfeld zusammengefallener Gräber. Sie waren die Grabfiguren gewesen, und nie vorher hatte ich eine Ansammlung von Jenseitigen gesehen, die so ans Herz ging. Sie fotografierten wir, Joe mit seiner japanischen Kamera, ich mit meiner Exa. Gerade waren wir auf dem Hugenottischen Friedhof - nahe dem Grab Fontanes - in unsere Arbeit vertieft, als sich ein Volkspolizist näherte. Mein Finger auf dem Auslöser verharrte.

Heute erinnere ich mich gut, wie sich mir damals in meinem Friedhofsbüro eine knochige Hand wie um das Herz legte. Ich fürchtete mich nicht, aber alle Räume, die ich auf dem Friedhof zur Verfügung hatte, ließen Beklommenheit in mir aufsteigen. In der kleinen Sakristei, die ich an der Friedhofskapelle für mich fand, standen mir ein altes Radio und ein Wasserkocher zur Verfügung. Und durch den Lautsprecher des Empfängers hörte ich eine Radiosendung mit Gedichten Heines, Tucholskys und Biermanns. Der mit Wasser aus dem Wasserkocher aufgebrühte Tee schmeckte stets, ich wollte es nicht wahrhaben, oder ich dachte, das ist eben der Geschmack hier, muffig. Eine kleine Schreibmaschine hatte ich im Rucksack hergeschleppt. Meine Finger rasten über die Tastatur, stolperten, um wieder aufzuspringen. Auf diesem Friedhof auch nur eine einzige andere Arbeit zu beginnen, schien mir sinnlos; doch musste ich meinem Leben schreibend einen Sinn geben in den Stunden, die ich außerhalb des Weltalls, völlig außerhalb zweier Systeme zubrachte. Immerhin habe ich in den Monaten meiner Anstellung beim Berliner Dom auf dem Gelände einige Orte mit rotem Band abgesperrt - da etwa, wo sich die Grabsteine neigten, wo die gebrochenen, schweren Äste oben in den Linden einen Balanceakt vollführten. Da ich mit Sense und Sichel nicht umgehen konnte, doch wenigstens die Friedhofswege von den hohen Gräsern befreit sehen wollte, rollte ich auf ebendiesen Wegen - zu den Rändern hin - Linoleum aus, von dem ich viele Rollen in einem windschiefen Schuppen fand. Unter dem Gewicht des Linoleums, in der Dunkelheit, würden alle Gräser absterben, so mein Kalkül.

Ansonsten widmete ich mich in meinem Inselalleinsein dem Fotografieren. Selten hatte ich dabei die Aufmerksamkeit schleifen lassen, und noch seltener waren mir Volkspolizisten begegnet. Jetzt aber saßen wir doppelt in der Falle. Joe Dummit gegenüber fühlte ich Schuld und Scham. Ich hatte ihn bedenkenlos hierher geschleppt. Er musste sich als erster ausweisen, und ich wusste nicht, wie nah er jetzt dem Gefängnis war. Oder wie nah wir beide dem Gefängnis waren. Er sah mich nicht an, während der Polizist seine Papiere studierte. Mit gesenktem Kopf blickte ich zu ihm. Dann reichte ich dem Uniformierten meine Papiere. Er gab uns beiden unsere Ausweise wieder. »Ja, ich weiß, das hier ist Grenzgebiet«, wagte ich einen plumpen Vorstoß. »Ich arbeite hier, und er« - ich wies auf Joe - »ist bei mir zu Besuch.« - »Es tut mir Leid«, fügte ich an, wissend, wie sinnlos meine Äußerung jetzt war, wie spät ich meine Naivität einbüßte. »Verlassen Sie jetzt am besten den Friedhof«, sagte der Polizist, der vielleicht auf Anruf eines Grenzers hier erschienen war, eines, der uns vom Wachturm im Fernglas zugesehen haben mochte.

Einmal noch tauchte Joe in meiner Wohnung in der Spittastraße auf. Er holte seinen Rucksack und brachte den Schlüssel, den ich ihm für die Dauer seines Aufenthalts geliehen hatte. Nie wieder bekam ich einen seiner dicken Briefe aus Amerika. Ein Durchschlag dessen, was ich damals in der Sakristei auf der Schreibmaschine schrieb, liegt heute hier zu Hause unter meinem Schrank. Ich habe es seither nie wieder gelesen, und ich will es auch nicht. Ich hatte damals die Insel für mich gewählt und gehörte zu keinem richtig dazu, nicht in diesem Sternensystem, nicht in jenem. Doch ich wusste immer, dass man die Mauer nicht überwinden konnte, höchstens unterqueren in der S-Bahn, die unter ihr hervorkroch, in Richtung Westberliner Norden.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.