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Die Königin der Welt
Die Anthologie »Beirut« präsentiert eine literarische Würdigung der libanesischen Hauptstadt
Am 26. Juli 1850 schrieb der französische Schriftsteller Gustave Flaubert (1821–1880) an seine Mutter: »Vor uns Beyruth mit seinen weißen, halb angelehnten Häusern, die bis zum Rande der Wellen niederstiegen, mitten im Grün der Maulbeerbäume und der Pinien. Dann links der Libanon. Das heißt, eine Bergkette mit Dörfern in den Furchen seiner Täler, von Wolken umkrönt, und mit Schnee auf dem Gipfel. Ah! arme Mutter, sieh, in diesem Moment stehen mir die Tränen in den Augen, wenn ich denke, dass Du nicht da bist, dass Du nicht wie ich all diese schönen Dinge genießt, Du, die Du sie so liebst. Wie würde ich mich freuen, wenn ich Dein armes Gesicht sähe, hier, neben mir, wie es staunt über diese fabelhaften Landschaften.«
In die von Dareg A. Zabarah-Chulak herausgegebene Anthologie »Beirut«, erschienen in der großartigen Reihe »Europa Erlesen« des Wieser-Verlags, haben Flauberts Eindrücke von Beirut keinen Eingang gefunden. Es findet sich zudem kein Hinweis darauf, dass Beirut in den 1960er Jahren ein Zentrum zeitgenössischer Kunst von globaler Bedeutung war. Eine Leerstelle ist auch das Wirken des bekannten palästinensischen Schriftstellers Ghassan Kanafani (1936–1972), der als Sprecher der palästinensischen PFLP durch eine Autobombe des israelischen Geheimdiensts starb. Auszüge aus Jean Genets Bericht »4 Stunden in Chatila« fehlen ebenfalls. Der französische Dramatiker und Dichter Genet (1910–1986) hielt sich in Beirut auf, als im September 1982, einen Tag nach der Ermordung des libanesischen Präsidenten Bechir Gemayel, unter den Augen israelischer Truppen christliche Milizen in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila ein Massaker verübten. Genet suchte Schatila auf und schrieb: »Beim Anblick derer von Chatila sah ich das Grauen.«
Die Anthologie »Beirut« enthält jedoch Reiseberichte, Gedichte und Prosatexte zur Genüge, um ein breit gefächertes Bild von jener Stadt entstehen zu lassen, die oft als »Paris des Orients« bezeichnet wurde. Sie gilt ebenso als paradigmatischer Fall des Urbizids, der Zerstörung einer Stadt, wie auch als wegweisend in Sachen Wiederaufbau nach dem Bürgerkrieg (1975–1990) und der Verheerung durch die israelische Armee (2006). Die Schäden der Explosion von rund 2 750 Tonnen Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen im August 2020, eine mutmaßliche Folge von Korruption, bei der 300 000 Menschen obdachlos wurden, sind hingegen längst noch nicht behoben.
Das Buch wurde vor der Bombardierung Beiruts durch die israelische Luftwaffe im Jahr 2024 zusammengestellt. Nachdem die Hisbollah während des Gaza-Kriegs Ziele in Nordisrael angegriffen hatte, explodierten im September Pager und Walkie-Talkies mutmaßlicher Mitglieder der Hisbollah, wobei nach libanesischen Angaben mindestens 37 Menschen getötet und rund 3000 verletzt wurden. Später starb der Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah im Beiruter Vorort Dahieh durch einen israelischen Luftangriff.
»Beirut« beginnt mit Reiseberichten aus dem 19. Jahrhundert: Ida von Hahn-Hahn (1805–1880) sah eine »alte dunkle, aus lauter Trümmern und Höhlen zusammengebaute Stadt, schwarz als ob sie Trauer trüge«. Die Stadt habe »nichts Empfehlenswertes«, doch wenn man aus Damaskus komme, erscheine Beirut »höchst zivilisiert«. Und: »Beirut ist übrigens ebenso alt, wenigstens urkundlich, als seine beiden berühmten Nachbarinnen Tyrus und Sidon, denn die Bibel führt es unter dem Namen Berytus.« Friedrich Wilhelm Hackländer (1816–1877) empfand Beirut als »gefängnisartig« und »brustbeengend«. Und obendrein »entsteigt den Straßen und Gewölben ein unerträglicher Geruch. Die Unannehmlichkeit wurde noch erhöht durch das Drängen und Stoßen der vielen Menschen in den Gassen; die Stadt war im Augenblick überfüllt mit englischen und türkischen Soldaten, Beduinen, Arabern, Bergvölkern etc.«
Der aus einer streng baptistischen Wiesbadener Familie stammende Pazifist Alfons Paquet (1881–1944) empfand in einem Anflug von Antisemitismus eine Synagoge in Beirut als »das Gotteshaus fremdartiger Leute, die in unseren Städten leben und vielleicht in stillen Stunden dem Heimweh nachhängen«. Für Gibran Khalil Gibran (1883–1931) nahmen sich Beiruts Mandel- und Apfelbäume im April »wie Nymphen in schneeweißen Kleidern aus, wie Himmelsbräute, die Mutter Natur den Dichtern und Künstlern schickt«. Für ihn war Beirut im Frühling »schöner als zu den übrigen Jahreszeiten; es ist befreit sowohl vom Schlamm des Winters als auch vom Staub des Sommers«. Der Reiseschriftsteller Kurt Faber (1883–1929), der 1926 der NSDAP beigetreten war, ließ sich über das »ausgeprägte Nachtleben« Beiruts aus: »Freilich ist es billigster Montmartre, hinterstes Sankt Pauli, äußerste Reeperbahn: Soldaten, Matrosen, Tanzlokale, Musikkasten und lose Frauen, die auf allen vorgenannten Arten schon Schiffbruch gelitten hatten, bis sie endlich noch Gnade fanden vor Beirut, der letzten, der äußersten, der ultima esperanza.«
Die Schweizer Schriftstellerin, Journalistin und Fotografin Annemarie Schwarzenbach (1908–1942) erfreute sich an einem Beiruter Volksfest: »Da gab es Tänzer und Gaukler, dressierte Affen, Messerkämpfer, Wahrsager. Im Kreis standen die Zuschauer: vom Land Gekommene, Beduinen und Männer aus dem Gebirge – in tausend fantastischen Kopfbedeckungen, in hohen Stiefeln, in langen goldgestreiften Gewändern.« Der syrische Romancier Khaled Khalifa (1964–2023) stellt mit Onkel Nisâr einen schwulen Syrer aus Aleppo vor, der in Beirut fand, was er immer gesucht hatte: Er wurde Stammgast in der Old-House-Bar, dort wo sich allabendlich die Gay-Community ein Stelldichein gab. Etel Adnan (1925–2021) bezeichnet in ihrem Gedicht »Kriegssonne in Beirut« die Stadt als »dreckige syphilitische Hure«.
Laut Machmud Darwisch (1941–2008) ist Beirut keine Stadt, »sondern Begriff, Bedeutung, Bezeichnung, Terminus. (…) Hier saßen die ständigen Abgeordneten jeder neuen Ideologie, jedes neuen Sounds, jedes neuen Trends.« Hanan Al-Scheich, geboren 1945, schildert die sexuelle Beziehung einer Frau zu einem Heckenschützen, der sich im gegenüberliegenden Haus versteckt hält. Pierre Jarawan, geboren 1985, zitiert eine junge US-Amerikanerin (»Beirut is so amazing«) und lässt die Leserschaft wissen, dass in einer »International DJs Night« DJ Hammer aus Wuppertal hinter dem Mischpult stand. In dem Gedicht »Beirut, du Königin der Welt« von Nizar Quabbani (1923–1998), der als syrischer Schriftsteller zwischen 1945 und 1966 Diplomat in Beirut, Kairo, Madrid und London war, heißt es: »Beirut, was sollen wir sagen, / da aus deinen Augen / Das Leid der ganzen Menschheit spricht / und auf deinen Brüsten der Bürgerkrieg tobt? (…) Noch immer liebe ich dich, du verrücktes Beirut, / du Strom aus Blut und Juwelen. / Ich liebe dich immer noch, du großmütiges Beirut, / du Beirut der Anarchie, / des gottlosen Hungers und der gottlosen Sattheit. / Noch immer liebe ich dich, du gerechtes Beirut, / du Beirut der Tyrannei, / du schlechtes Beirut, du Beirut der Mörder und Dichter.«
Dareg A. Zabarah-Chulak (Hg.): Europa Erlesen: Beirut. Wieser, 268 S., geb., 14,95 €.
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