Polen können früher in den Ruhestand gehen

Nach der Senkung des gesetzlichen Renteneintrittsalters warnen polnische Wirtschaftsexperten vor höherer Altersarmut

  • Wojciech Osinski, Warschau
  • Lesedauer: 3 Min.

In Polen können Frauen künftig mit 60 und Männer mit 65 Jahren in Rente gehen. Dies hat der Sejm beschlossen. Mit dem Gesetz zur Senkung des Renteneintrittsalters löst die nationalkonservative PiS-Regierung von Beata Szydlo eines ihrer zentralen Wahlversprechen ein.

Der ehemalige Ministerpräsident Donald Tusk hatte 2012 das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 angehoben. Der damals oppositionellen PiS ist keineswegs entgangen, dass mit dieser Entscheidung das »langsame Sterben« der regierenden Bürgerplattform (PO) eingeläutet wurde. Mit dem Versprechen, diese Rentenreform aufzuheben, hat der heutige Präsident Andrzej Duda dann auch viele Wähler an die Urnen gelockt.

Experten schlagen dennoch Alarm. »Die Regierenden wissen gar nicht, was sie tun«, sorgt sich Wladyslaw Kosiniak-Kamysz, einst Arbeitsminister im Kabinett Tusk. »Sie überdecken andere Probleme, weil sie unentwegt auf die Umfragen schielen. Die Wahrheit ist trotzdem bitter: Der polnische Haushalt wird das nicht aushalten.« So werden die Kosten der Absenkung des Rentenalters allein für 2017 bis 2019 auf umgerechnet rund 7 Milliarden Euro geschätzt. Unverblümter äußert sich das Wochenmagazin »Wprost«: »Szydlo unternimmt diese Schritte, um ihre Mannschaft am Leben zu erhalten. Die Schmerzen in der Gesellschaft werden erst eintreten, wenn sie gar nicht mehr an der Macht ist.«

Nicht nur die Opposition warnt, dass noch mehr Rentner ohne staatliche Zuschüsse kaum über die Runden kommen und das neue Gesetz die Altersversorgung auf ein Hungerniveau sinken lässt (wovon sie zugegebenermaßen schon heute nicht weit entfernt ist). Wer eher in Rente geht, hat weniger Beiträge gezahlt und muss mit einer niedrigeren Monatsrente leben. Besorgt zeigen sich auch »Wirtschaftsgurus« wie Leszek Balcerowicz, Professor am College of Europe sowie früherer Finanzminister. Der linke Ex-Premier Marek Belka spricht von »kollektivem Selbstmord«.

Die Höhe der »emerytura« (Rente) wird seit jeher in Polen heiß diskutiert, viele Senioren nagen am »Hungertuch«. Ein späterer Renteneintritt schien daher vor einigen Jahren unausweichlich.

Das Rentensystem bedarf sicherlich der Sanierung. Auch die polnische Gesellschaft lebt heute länger, wobei es weniger junge Beitragszahler gibt. Die Geburtenzahlen gehen seit 1989 rapide zurück, der »Pillenknick« kam an der Weichsel spät - aber er kam. In drei Jahrzehnten wird jeder dritte Pole das 60. Lebensjahr erreicht haben. Die PiS hält dagegen, sie folge der Realität: »Wer mehr verdienen möchte, kann weiterarbeiten. Aber mal im Ernst: Viele der über 60-jährigen Polen, die jahrzehntelang körperlich anspruchsvollen Berufen nachgegangen sind, befinden sich gar nicht mehr in einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. Sollen sich diese Menschen nun um einen Bürojob bemühen?«, fragt Regierungssprecherin Elzbieta Witek.

Kritiker halten dem heutigen EU-Ratspräsidenten Tusk vor, er habe vor vier Jahren bei seiner Reform keine komplementären Vorschläge zur Verbesserung der beruflichen Situation älterer Arbeitnehmer unterbreitet. Auch müsste die Lage in vielen anderen Lebensbereichen verbessert werden, beispielsweise in der Kinderbetreuung, Integration ausländischer Arbeitskräfte sowie Chancengleichheit an den Schulen, um die Zahl der Schulabbrecher gering zu halten. Nach Meinung vieler Pädagogen wurden in den Mittelschulen aber bereits beachtliche Fortschritte erzielt. Ausgerechnet diese will Szydlos Regierung nun abschaffen.

Im Falle Polens wäre eine schrittweise Anpassung des Rentenalters vernünftig, meinen Experten. Nur auf diese Weise werde man irgendwann die Renten erhöhen bzw. der Inflation entgegenwirken können. Diese Lösung ist indes vorerst Geschichte.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -