Im Rollstuhl durch den Staub

In Uganda haben Kinder mit Behinderung nur selten eine Chance. Ein Rehabilitationszentrum hilft bei der Inklusion

  • Andreas Boueke
  • Lesedauer: 8 Min.

In seinem rostigen Rollstuhl fährt er durch enge Gänge, vorbei an überfüllten Schlafräumen, über kleine Stufen. Der 15-jährige Kisekka rollt flink durch das Krankenhaus, das zum Rehabilitationszentrum des Kinderhilfswerks OURS gehört, am Rand der ugandischen Kleinstadt Mbarara. »Als die Leute von dem Kinderhilfswerk beschlossen, meine Schulgebühren zu zahlen und mir einen Rollstuhl zu schenken, hat sich mein Leben völlig verändert«, erzählt er.

Kisekkas grüner Rollstuhl ist eine Gebrauchtspende aus Europa. Auf den Schotterpisten in der Umgebung des Krankenhauses kommt das alte Modell an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Die Gummischicht der kleinen Vorderräder ist fast völlig abgenutzt. Die Hinterräder haben kein Profil mehr, der Plastiküberzug des Sitzes hat viele Löcher. Aber noch funktioniert das Ding. »Früher bin ich auf dem Boden gekrochen«, erinnert sich der Junge. »Deshalb habe ich so viele Wunden an den Knien.«

Damals hatte er keinen Rollstuhl. Er hätte sterben können, weil er nicht schnell genug war. »Ich hatte immer Angst, dass mich wilde Tiere finden und beißen. Wenn ich über die Straße gekrochen bin, sind manchmal Kühe gekommen und haben mich umgestoßen. Jetzt mit dem Rollstuhl ist alles besser.«

Kisekka bleibt in einem Wartesaal, bis sich die Tür zum Behandlungsraum öffnet. Ein kleiner Junge kommt heraus, auf Krücken gestützt. Bei jedem Schritt verzieht er sein Gesicht vor Schmerz. Sein linkes Bein schleift über den Zementboden. »Ich kenne ihn,« sagt Kisekka. »Es wird nicht lange dauern, dann hat er diese Situation überwunden. Wenn er weiter seine Übungen macht, wird er die Krücken bald zur Seite legen und ohne Hilfe laufen können.«

Hinter dem Jungen taucht eine Krankenschwester auf. Sie gibt ihm Tipps, wie er seinen Bewegungsablauf ändern kann, damit ihm das Laufen weniger Schmerz bereitet. Kisekka lächelt, als ihn die junge Frau anschaut. Es ist Cindy, seine Therapeutin. Sie erklärt: »Kisekkas Lähmung ist eine Konsequenz seines eigentlichen Leidens, der Spina bifida, ein offener Rücken. Diese Fehlbildung wirkt sich auf seinen gesamten Unterkörper aus.«

Kisekka ist barfuß. Er trägt eine alte Schuluniform, die einzige, die er besitzt: gelbes Hemd, roter Pulli und kurze Hose. Seine Knie und Schienbeine sehen genauso geschunden aus wie der Rollstuhl. Am Tag zuvor hat der Auspuff eines Taxis die Haut an seinem Bein verschmort.

Schwester Cindy nimmt das Pflaster ab und ersetzt es durch ein neues, sauberes. »Er hat keinerlei Gefühl in seinen Beinen. Man könnte sie in Feuer legen und trotzdem spürt er nichts. Nur mit den Augen sieht er das Problem, denn der obere Teil des Körpers ist gut mit dem Gehirn verbunden. Aber der untere Teile ist abgeschnitten«, erklärt die Krankenschwester.

Die junge Frau behandelt auch die feuchte Wunde an Kisekkas Fuß. »Wenn sich Kinder wie er solche Verletzungen in anderen Dörfern zuziehen, werden sie meist nicht ordentlich behandelt«, erzählt Cindy. »Meist kommen sie erst hierher, wenn die Wunden schon sehr groß sind. Dann dauert es sehr lange, bis sie heilen. Bei Kisekka ist das anders. Er wohnt jetzt in der Nähe von OURS. So können wir ihn schnell behandeln.« Für die anderen Kinder sei es ein zusätzliches Trauma, wenn sie sehen, wie die Wunde ohne Behandlung immer größer wird.

Kisekka ist ein Waisenkind. Als er neun Jahre alt war, starben seine Eltern an Tuberkulose. Zwei Jahre lang haben ihn sein älterer Bruder und seine beiden Schwestern ernährt, obwohl sie selbst noch Kinder waren. Die vier Geschwister wohnten zusammen in einer alten Hütte aus Holz und Lehm unter einem dicken Strohdach. »Ich hätte sterben können. Die Hütte war schlecht gebaut. In der Regenzeit hätte sie einstürzen können. Ich hatte keinen Rollstuhl und wäre nicht rausgekommen. Ich wäre gestorben«, erzählt Kisekka.

Von den Nachbarn bekamen die Kinder keine Hilfe. Die Dorfgemeinschaft hat sie nie richtig aufgenommen. Kisekkas Behinderung galt als Zeichen der Schande. Seine Stimme klingt traurig, wenn er von dieser Zeit erzählt: »Sie haben Angst vor Kindern wie mir. Sie halten uns für nutzlos, für verhext. Sie behaupten, Gott habe uns verflucht, er würde uns nicht akzeptieren. So ein Leben kann nicht gut sein.«

Viele der Narben an seinen Beinen erinnern an diese Jahre, während der er sich nur kriechend fortbewegen konnte. Als die Organisation OURS auf ihn aufmerksam wurde, war er unterernährt und verwahrlost. Zuerst behandelten die Ärzte seine Wunden und Deformationen. Schon bald ging es ihm deutlich besser. Dann bekam er seinen ersten Rollstuhl und ein Schulstipendium für das Internat der Ruharo-Berufsschule, keine fünfhundert Meter von dem Krankenhaus entfernt.

Auf dem staubigen Weg vom Krankenhaus hinüber zum Internatsgebäude kennt Kisekka jedes Loch und jede Wurzel. Er rollt an einem kleinen Bolzplatz vorbei, auf dem einige Jungen mit einem selbst gebastelten Ball aus zusammengebundenen Plastiktüten spielen. Die meisten sind barfuß, andere tragen Gummilatschen aus alten Autoreifen. Tor! Kisekka freut sich mit dem Schützen.

Nach dem Spiel bieten zwei Jungen Kisekka an, ihn zu schieben. Der vierzehnjährige Henry erklärt: »Früher war diese Schule ein Krankenhaus. Deshalb akzeptiert sie kranke Kinder. Im Unterricht sollten wir uns gegenseitig helfen, gute Leistungen zu erzielen. Das fördert die Freundschaft.«

Der Direktor der Schule, Chinfred Matota, sitzt auf einem wackeligen Stuhl im fensterlosen Lehrerzimmer und frühstückt. »In unserem Land sind einige Schulen ausgewählt worden, behinderte Kinder zu unterstützen«, erklärt er nicht ohne Stolz. »In Mbarara war das unsere Schule.«

Mit kleinen Brotfetzen greift der Direktor festen Maisbrei aus einer Schüssel. Er berichtet, dass seine Ruharo-Berufsschule die einzige Inklusionsschule des Bezirks ist. »Das Bewusstsein aller Kinder hat sich verändert. Sie sehen, dass auch Schüler mit Behinderung gute Leistungen erbringen können. Und sie erzählen davon, wenn sie nach Hause fahren. Die Kinder fangen an, miteinander zu spielen. So merken alle, dass sie Freunde sein können.«

Nachdem der Pädagoge sein letztes Stück Brot gegessen hat, gießt er etwas heißes Wasser in die Schüssel. Den restlichen Maisbrei trinkt er als Suppe. »Kisekka ist ein intelligenter Junge, einer der Besten in seiner Klasse. Im Vergleich zu anderen Kindern konzentriert er sich mehr auf das Lernen. Deshalb glaube ich, dass er eine leuchtende Zukunft hat. Vielleicht wird er mal zu einem bekannten Fürsprecher für Kinder mit Behinderungen.«

Im Alltag ist Kisekka oft auf die Hilfe seiner Schulkameraden angewiesen. »Mit dem Essen bekomme ich meist Hilfe. Aber manchmal vergessen sie, meinen Teller mitzunehmen, oder mir ein Brot zu bringen. Wenn es dann nichts mehr in der Küche gibt, muss ich hungrig ins Bett gehen. So ist das halt.«

Vor der Küche des Internats bildet sich jeden Mittag eine Warteschlange. In dem verrußten Verschlag aus Wellblechplatten kocht eine alte Frau Bohnen, Maisbrei und ein wenig Gemüse auf einer offenen Feuerstelle. Das Essen für Kisekka holt meist sein Freund Musimand Amon: »Ich bringe ihm auch das Wasser, mit dem er seine Kleider wäscht. Ich helfe ihm, weil er mein Freund ist. Er ist ein guter Mensch. Ich weiß, dass es ihm guttut, in die Schule zu gehen«, sagt er. Auch Musimand blickt optimistisch auf die Zukunft seines Freundes. »Er ist zwar gelähmt, aber eines Tages wird er einen Beruf ausüben und sein Leben organisieren können.«

Mit Mädchen spricht Kisekka so gut wie nie. Im Süden Ugandas ist es nicht üblich, dass Jungen und Mädchen außerhalb des Unterrichts Kontakt haben. Trotzdem weiß die Klassensprecherin, Nyakado Sara, gut Bescheid über Kisekkas Situation: »Es ist nicht leicht für ihn. Manchmal will er nachts raus aus dem Bett, um Pipi zu machen. Aber die anderen wollen schlafen und keiner hilft ihm. Dann macht er einfach ins Bett. Deshalb riecht er manchmal so komisch. Außerdem fällt ihm das Baden schwer«, erzählt Nyakado. »Es tut mir wirklich leid, dass ich ihm nicht helfen kann. Ich würde gerne mit ihm sprechen, aber das geht nicht. Ich bin ein Mädchen und er ist ein Junge.«

Nachmittags steht Englischunterricht auf dem Stundenplan. 50 Schülerinnen und Schüler drängen sich in den kleinen Klassenraum. Der Lehrer ist bemüht, möglichst viele Kinder am Unterricht zu beteiligen. Während die Gruppe Übungsaufgaben bearbeitet, kümmert er sich auch um Einzelne. »Kisekka ist ein guter Schüler, so etwa der Drittbeste in dieser Klasse. Wenn er eine Chance bekommt, kann er eines Tages viel erreichen«, meint der Lehrer.

Obwohl Kisekka als Kind mehrere Schuljahre verpasste, hat er schon fast zu seinen Altersgenossen aufgeschlossen. Er will beweisen, dass auch Kinder, die im Rollstuhl sitzen, gute Leistungen erbringen können: »Manche Leute sehen uns als nutzlos an«, sagt er. »Es ist wirklich blöd, behinderten Kindern keine Ausbildung zu geben. Viele Jungen und Mädchen werden geopfert, obwohl man gar nicht weiß, was in ihnen steckt.«

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