Pulverfässer auf dem Balkan
Martin Leidenfrost über Unruheherde des Balkans, ein Menschenrechts-Filmfestival und einen bosnischen Trump-Verehrer
Ich fahre über Unruheherde des Balkans. Sitze in Kneipen, trinke, lausche. So etwa in der Hauptstadt eines gescheiterten Doppelstaats von drei Kriegsparteien, in Sarajevo. Das Zentrum ist eine Exklave für bosnische Bobos. Ein Museum arbeitet die Belagerung rein künstlerisch auf, zusammen mit Srebrenica, auf Englisch. Ich gehe über die Allee »Zmaja od Bosne«, auf der Heckenschützen ihre Mitbürger abgeknallt haben. 14 000 Tote zwischen 1992 und 1995: Ich frage mich, ob die Belagerung von Sarajevo nicht das größere Verbrechen war. Ich sitze bei einem »Menschenrechts-Filmfestival«, das zum Abschluss einen Essay-Stadt-Film zeigt. Zwei der sieben Regisseure tragen die gleichen taubengrauen Jeans, den gleichen antrazitgrauen Pullover, sprechen gleich gut Englisch und fahren sich ähnlich reflexiv-subversiv durchs Haar. Seid ihr Brüder, frage ich sie. Irrtum, der eine ist Bosnier, der andere Portugiese.
Zünder zur Sprengung Bosniens liegen überall. Den in Orašje verhafteten Kriegsverbrechern demonstrieren Kroaten Solidarität, angefangen vom katholischen Kardinal. Man wartet gebannt auf den 9. Januar 2017, da feiert der serbische Landesteil sein 25-jähriges Jubiläum. Das Referendum über den Feiertag wurde vom Verfassungsgericht vorher verboten und hinterher annulliert.
Ich will »Serbisch-Sarajevo« sehen. Es darf nicht mehr so genannt werden, doch führt die Republika Srpska verstreute Stadtränder und Gebirgsorte als »Stadt Ost-Sarajevo«. Allein das südliche Lukavica ist Teil des Stadtgebiets. Wo 1914 der österreichische Thronfolger ermordet wurde, steige ich in den Trolleybus 103. Er endet im Wohnmassiv Dobrinja. Der Busbahnhof »Ost-Sarajevo« liegt 200 Meter weiter, wird aber nicht angesteuert. Serbisch-Sarajevo schließt direkt an. Ich laufe durch Lukavica, das 1996 durch die Aussiedlung von Sarajevo-Serben wuchs. Es erinnert mich an Sibirien. Die Straßen sind breit, die neuen niedrigen Wohnblöcke in kühlem Bunt gehalten. Im neuen Rathaus eine Filiale der Sberbank. Ich esse in einer ungeheizten Ćevapčići-Braterei. Der Birnenschnaps schmeckt nach Labor-Alkohol. Wenn ich ältere Männer frage, sagen sie lebhaft, dass sie nie wieder Krieg erleben wollen. Im Straßenbild, auch in den Läden, fallen mir die vielen Soldaten auf. Ich setze mich ins »Moskwa«, eine schicke und geheizte Café-Bar. Auch hier entspannt unter Zivilisten ein Soldat. Ich trete näher. »Ja, wir sitzen dienstlich im Café.« - »Was ist das für eine Uniform?« - »Die von Bosnien. Aber wir haben alle unsere eigene Armee. Kroaten, Serben …«
Ich fahre nach Kumanovo, Mazedonien, 520 Kilometer südöstlich. Das Zwei-Millionen-Armenhaus balanciert seit 2014 am Rande eines zweifachen Bürgerkriegs, mazedonisch-albanisch und nationalistisch-sozialdemokratisch. 20 000 abgehörte Bürger, Wählerlisten mit fiktiven Wählern, nach zwei Verschiebungen wird am 11. Dezember endlich gewählt. Kumanovo empfängt mich als brüchig hinbetoniertes Ensemble grauer Plattenbauten. Am 9. Mai 2015 erschütterten 13 Stunden des Horrors das albanische Viertel: 8 tote Polizisten, 14 tote kosovarische Terroristen. Das albanische Viertel heißt »Divo Naselje« und besteht aus armseligen Flachbauten. Der Tatort liegt in der Straße mit den Villen. An der Kreuzung wartende Männer, jeder für sich versunken. Der Staat hat rasch entschädigt, an Stelle der kaputt geschossenen Häuser stehen bereits drei mehrstöckige Neubauten. Verschleierte Hausfrauen, vor der Tür ein Dutzend bunter orientalischer Flachschuhe.
Kumanovo ist auch die mazedonische Stadt mit dem höchsten Anteil von Serben. Am späten Abend stoße ich im Zentrum auf eine Art einsehbare Wohnküche. Ich trete ein. Genosse Tito blickt an Pamela Andersons Busen vorbei, der Trauben-Rakija schmeckt herb, eine Lokalrunde kann ich für zehn Euro schmeißen. Geheizt wird das »Bakus Prom« nicht. Die Gäste sind ältere Käuze, »Serben, schon halb Mazedonier«. Der einzige Junge ist Anwalt, stammt aus der Republika Srpska und will mir im Rausch von einem großen Dilemma erzählen: 600 oder 6000 Kumanover würden auf eine NATO-Basis in den nahen Kosovo pendeln, für ein Monatsgehalt von 6000 Euro. Sein anwesender Onkel sei Koch in Afghanistan, »6000 Euro!«. Andere Arbeit gebe es nicht. Der Junge kann nicht ausreden, die Älteren ziehen ihn von mir weg. Es läuft Tennis, sein Onkel ruft: »Ich liebe Putin, Trump und Djokovic.« Weiter ruft er: »Ich bin Bosnier!« Und küsst seinen Neffen.
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