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Gar nichts ist viel

Ein Band stellt deutsch- und russischsprachige Prosagedichte aus Kandinskys Nachlass vor

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Münchener Piper Verlag brachte Wassily Kandinsky 1912/13 die Abhandlung »Über das Geistige in der Kunst«, den »Blauen Reiter Almanach« sowie das poetische Album »Klänge« heraus. Damit entwarf er ein spiritualistisches Weltbild, das die Nähe seines Denkens zur Theosophie von Rudolf Steiner und Jelena Blawatskaja zeigte. Das in einer Auflage von 300 Exemplaren veröffentlichte Album »Klänge« enthielt Prosagedichte sowie farbige und schwarzweiße Holzschnitte, eine Kombination, die die synästhetische Sensibilität des Künstlers erkennen ließ.

Im Gegensatz zu der gleichzeitig aufkommenden ekstatischen expressionistischen Lyrik wiesen Kandinskys Gedichte eine betont schlichte Sprache auf, hoben Momente des Sehens und der Wahrnehmung konkreter Details hervor. Lautmalerische Elemente erzeugten einen inneren Klang, der ebenso wie der Hang zum Absurden und Abstrakten Dadaisten wie Hugo Ball und Hans Arp veranlasste, Kandinsky als einen ganz großen Erneuerer zu würdigen.

Mit dem »Vergessenen Oval« werden Kandinskys nachgelassene deutsch- und russischsprachige Prosagedichte einem breiten Publikum zum ersten Mal zugänglich gemacht. Dabei handelt es sich zum einen um Texte, die 1912 nicht in den Band »Klänge« aufgenommen wurden, zum anderen um Veröffentlichungen aus den Jahren 1913 und 1914, einige in russischer Sprache verfasste Jugendgedichte (»Abend«, »Landschaft«, »Das Maß«, »Und«, »Gescheiter Geist«, »Vier«, »Schweigen« und »Spätherbst«) sowie das Gedicht »Zwielicht« von 1920. Ähnlich wie in dem Band »Klänge« kreisen die Texte um konkrete Begriffe (Gesicht, Augen, Mann, Haus, Hügel, Ferne, Wolken), die zugleich Motive einer visuellen Beobachtung darstellen.

Alexander Graeff nennt im Nachwort vier zentrale, sich wiederholende Stilelemente, die Kandinskys Gedichte charakterisieren. Erstens arbeite der Autor mit motivischen Gegensätzen, verwende Oppositionspaare, die sich mit dem philosophischen Dualismus seines Weltbildes decken. Zweitens habe er eine Vorliebe für die Kreisbewegungen der Sprache. Drittens wiederhole er bestimmte Wörter und zentrale Motive, setze einzelne Begriffe gar gebetsmühlenartig ein. Schließlich erweise sich Kandinsky mit den Verknappungen und Reduzierungen im Satz als ein Vorläufer der konkreten Poesie. Das bestätigt auch das Gedichte »Leer«: »Links oben in der Ecke ein Pünktchen./ Rechts unten in der Ecke ein Pünktchen./ Und in der Mitte gar nichts./ Und gar nichts ist viel. Sehr viel - jedenfalls/ viel mehr als etwas.«

Kandinsky schrieb mehrere Texte der Sammlung selbst auf Russisch und Deutsch. Gedichte, die er nur auf Russisch verfasste, übertrug Alexander Filyuta ins Deutsche. Christoph Vieweg schuf die Illustrationen, die sich dem dichterischen wie bildnerischen Werk Kandinskys annähern.

Das Verlagshaus Berlin, das in der Edition ReVers verschollene Texte verstorbener Autoren wiederentdeckt, wurde 2015 im Wettbewerb »Die schönsten deutschen Bücher« von der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet. Kandinskys Gedichte sind der zweite Beitrag aus der russischen Literatur. Als Nummer 03 erschien 2014 Wladimir Majakowskis Agit-Poem »Der fliegende Proletarier«.

Wassily Kandinsky: Vergessenes Oval. Gedichte aus dem Nachlass. Herausgegeben von Alexander Graeff und Alexander Filyuta. Übersetzung: Alexander Filyuta. Illustration: Christoph Vieweg. Verlagshaus Berlin. Edition ReVers 05. 99 S., Softcover, 18,90 €.

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