»Die Rückendeckung, die ich brauche, die habe ich«

Gregor Gysi zu Europa, zu seiner Heimatpartei und zur Zukunft politischer Zusammenschlüsse. Mit dem neu gewählten Präsidenten der Europäischen Linken sprach Uwe Sattler

  • Lesedauer: 9 Min.

Die Europäische Linke gilt als weitgehend unregierbar. Sie wollten dennoch Präsident werden?
Ich bin es gewohnt, mit schwierigen Parteien umzugehen. Wenn das so leicht wäre mit der Europäischen Linken, würde es mich weniger reizen. Bei mir ist es einerseits so, dass ich die Europäische Union scharf kritisiere. Sie ist unsozial, unsolidarisch, undemokratisch, ökologisch nicht nachhaltig, intransparent, bürokratisch und versucht nun auch noch, militärisch zu werden. Und obwohl ich sie so kritisiere, sage ich: Es gibt zugleich Gründe, weshalb ich nicht will, dass sie untergeht.

Welche?
Der erste Grund ist die Jugend. Die Jugend ist europäisch aufgewachsen. Die kann sich das gar nicht mehr vorstellen, den alten Nationalstaat mit Grenzschlagbaum, Pass und Visum. Das ist schon für uns schwer vorstellbar, aber für die Jugend überhaupt nicht mehr. Das zweite ist, dass die alten Nationalstaaten ökonomisch im Verhältnis zu China und den USA kein Gewicht haben. Und, drittens, auch nicht weltpolitisch. So spielt Luxemburg beispielsweise im Nahostkonflikt keine Rolle, aber selbst Deutschland dann kaum. Der vierte Grund ist der Sonderweg des bei der Aufteilung der Welt dem Anspruch der Herrschenden nach zu kurz gekommenen Deutschlands, der zum Ersten Weltkrieg und zum Zweiten Weltkrieg führte. Dieser Sonderweg sollte nach 1945 durch die Integration Deutschlands für immer ausgeschlossen werden, und dafür bin ich. Schließlich der fünfte und entscheidende Grund: Es gab zwischen den Mitgliedsländern der EU noch nie einen Krieg, während vorher die ganze europäische Geschichte durch Kriege zwischen diesen Staaten gekennzeichnet war. Wenn wir wieder zurückfallen in die alten Nationalstaaten, entstehen auch wieder alte Konflikte und an irgendeiner Stelle kann es losgehen. Also will ich etwas dafür tun, dass die EU sehr gründlich umgestaltet wird. Ich finde auch den Begriff »Neustart« gut, den meine Partei dafür gefunden hat

Kennen Sie denn die Parteien der EL? Die sind in einigen Punkten ganz anderer Meinung.
Ich bin Politiker, das heißt, ich kann auch über Dinge reden, die ich nicht kenne - das ist natürlich ein Scherz. Ich habe die Vertreter der spanischen und portugiesischen Partei besucht, mit den Vertretern der dänischen Partei telefoniert und mich natürlich von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern informieren lassen. Kennen wäre jedoch zu viel gesagt, das Kennenlernen muss ich später organisieren, auch das wird zu meinen neuen Aufgaben gehören.
Aber natürlich verstehe ich, dass zum Beispiel eine Partei wie die in Portugal an eine Reformierbarkeit der EU gar nicht mehr glaubt. Dort ist über die Hälfte der jungen Leute arbeitslos, und zwar durch den Zwang der EU. Es gibt auch eine andere Partei, die stützt sich in erster Linie auf Volkssouveränität und will die EU-Struktur nicht. Aber die meisten Parteien, die in der EL sind, wollen deutliche Reformen. Letztlich sind sich alle einig, dass wir immer für Frieden eintreten, für mehr soziale Gerechtigkeit und mehr Demokratie. Und das ist ein wichtiger Konsens, um wirken zu können.

Reicht der Konsens in Sachen Frieden oder soziale Gerechtigkeit tatsächlich? Lässt sich ein in der EL vertretenes Spektrum von der fast generellen Ablehnung der europäischen Integration bis hin zur Bereitschaft, mit kleinen Schritten auch Reformen herbeizuführen, unter einen Hut bekommen?
Das wäre in der Tat zu wenig. Aber sehen Sie mal, wenn ich zum Beispiel ein Gespräch habe mit führenden europäischen Politikern, kann ich denen doch sagen: Wenn sie die EU nicht so verändern, dass die Mehrheiten der Bevölkerungen bereit sind, sie zu akzeptieren, geht sie kaputt. Im Augenblick haben sie das noch nicht begriffen.

Was steht einer Akzeptanz im Weg?
Nehmen wir mal ein Beispiel dafür: Das Europäische Parlament beschließt, die Beitrittsgespräche mit der Türkei auszusetzen, weil Erdogan gerade versucht, die Türkei von der Demokratie zur Diktatur zu verwandeln. Was sagt Frau Merkel: Gut, wir machen kein neues Verhandlungskapitel auf, aber sprechen über die alten weiter. Sie nimmt das Parlamentsvotum nicht ernst! Sie sagt, lass die doch beschließen, was sie wollen. Ein anderes Beispiel: Was haben jetzt die Staats- und Regierungschefs beschlossen? Sie haben beschlossen, an den Brexit-Verhandlungen wird das Europäische Parlament nicht beteiligt. Das heißt, sie setzen einfach das fort, was sie wollten. Und worüber meckert Frau Merkel? Sie beschwert sich lautstark darüber, dass Tsipras und das griechische Parlament entschieden haben, den ärmsten Rentnern zusätzlich etwas zu zahlen. Mit der Begründung werden nun Schulderleichterungen für Griechenland verweigert, obwohl sie auch schon vorher verweigert wurden. Hat sie einmal Kritik geübt, dass wir 18 Milliarden Euro der Commerzbank zur Verfügung gestellt haben, die keine Steuern zahlt und bei der wir an ihrem Gewinn nicht beteiligt werden? Dieses Herangehen müssen wir ändern - unabhängig davon, dass es in der EL eine Partei gibt, die nicht an die Reformierbarkeit der EU glaubt oder eine andere, die eher auf Volkssouveränität setzt. Im Übrigen sind es 25 Mitglieds- und sechs Beobachterparteien. Sie wollen auf jeden Fall Veränderungen erreichen. Das ist entscheidend, und die anderen Auffassungen berücksichtige ich selbstverständlich.

Überschätzen Sie nicht die Möglichkeiten der Linken, EU-Europa zu verändern?
Der bisherige Vorsitzende Pierre Laurent hat ein großes Verdienst. Er, seine Stellvertreter und andere haben es geschafft, dass heute Strukturen in der EL existieren. Jetzt müssen wir die nächsten Schritte gehen. Das heißt, die Partei der Europäischen Linken attraktiver, bekannter zu machen, auch für mehr Einfluss zu sorgen und sie zu einem Faktor gegen die Rechtsentwicklung in Europa zu machen.

Wie kann das gelingen?
Zum Beispiel gibt es jetzt schon den Vorschlag, dass jedes Jahr ein immer breiter werdender Kongress stattfindet, wo die entscheidenden europäischen Fragen diskutiert werden. Also ein ständiges Forum. Und ich bin zum Beispiel auch bereit, in die jeweiligen Länder zu fahren, wenn es dort zentrale Aktionen und Veranstaltungen gibt und dann eben auch für die Partei der Europäischen Linken zu sprechen. Ich bin ebenfalls bereit - und ich glaube, dass ich die Chance auch bekomme - mit führenden europäischen Politikern zu sprechen, um ihnen all das zu sagen und zu erklären. So können wir die Partei Schritt für Schritt zu einem Wirkungsfaktor machen. Ich kann das nicht garantieren, aber ich will es auf jeden Fall versuchen.

Haben Sie dafür auch ausreichend Rückendeckung in Ihrer eigenen Heimatpartei?
Die Rückendeckung, die ich brauche, die habe ich.

Ich meine: Will die LINKE die EU abschaffen oder reformieren? Das wird auch immer wieder im Zusammenhang mit einer »Regierungsfähigkeit« der LINKEN diskutiert.
Meine Fraktion hat mit großer Mehrheit einen Beschluss gefasst, dass wir über die Frage, aus der EU auszutreten oder sie aufzulösen oder aus dem Euro auszusteigen oder ihn aufzulösen, nicht einmal zu diskutieren brauchen. Das kommt für uns nicht in Frage. Trotzdem werden immer ganz wenige, die da eine andere Position haben, zu einer Riesenfront aufgebauscht. 90 Prozent, sagt eine Umfrage unter unseren Wählerinnen und Wählern, will unsere Regierungsbeteiligung im Bund. Aber natürlich gibt es auch Leute in meiner Partei, die das nicht wollen. Davon darf sich die Partei jedoch nicht leiten oder verführen lassen. Wer nicht kompromissfähig ist, ist nicht demokratiefähig. Und wer zu viele Kompromisse macht, gibt seine Identität auf.

Sie finden den Begriff »Neustart« der EU gut. Ich glaube, er drückt sich um eine klare Aussage, ob man für oder gegen die EU ist.
Ich finde ihn deshalb gut, weil er deutlich macht, dass wir zu den ursprünglichen Ansätzen zurück müssen, die es mal gegeben hat, als es um mehr Demokratie, mehr Solidarität ging. Zum Beispiel wurden doch Länder wie Portugal, Spanien und Griechenland auch aufgenommen, um nach den Diktaturen dort die demokratische Entwicklung zu stützen. Und heute werden diese Länder ruiniert. Das ist eine völlig andere EU. Wir hatten auch in unserer Partei einen Neustart, ohne sie aufzulösen. Deshalb verstehe ich den Begriff anders als Sie.

Im Europaparlament wird von der Linksfraktion schon ganz konkrete Arbeit geleistet. Wie soll denn das Verhältnis der Partei der Europäischen Linken zur GUE/NGL-Fraktion aussehen?
Darüber werden wir beraten, das habe ich ja nicht allein zu entscheiden. Darüber wird der Vorstand beraten, darüber wird auch die Fraktion beraten. Ich möchte auf jeden Fall, dass das Verhältnis enger wird, weil auf beiden Seiten unterschiedliche Möglichkeiten bestehen. Die Fraktion kann agieren im Parlament, sie kann uns auch informieren über Vorgänge dort, was man gar nicht so mitbekommt, wenn man im dortigen parlamentarischen Betrieb nicht präsent ist. Wir können wiederum Vorschläge unterbreiten zu Themen, von denen wir meinen, es wäre günstig, sie ins Europäische Parlament einzubringen. Es gibt auch heute schon kein Konkurrenzverhältnis zwischen EL und GUE/NGL, und ich möchte auch nicht, dass wir ein »Nicht-Verhältnis« haben, sondern dass enger zusammengearbeitet wird und dass wir uns abstimmen.

Sie sind Präsident der Europäischen Linkspartei, die frühere PDS-Vorsitzende Gabi Zimmer ist Vorsitzende der Linksfraktion im Europaparlament. Ist das für einige Parteien in der EL nicht etwas zu viel Berlin?
Man muss doch Folgendes sehen: Die Europäische Union wird von Deutschland dominiert. Und zwar in völlig falscher Richtung. In Richtung Abbau der Demokratie, in Richtung Sozialabbau, gerade im Süden Europas. Und wenn zwei Deutsche dem deutlichst widersprechen, zeigt es: Es gibt auch ein anderes Deutschland. Vielleicht ist es nicht so schlecht, dass Europa erfährt, es gibt neben Frau Merkel und Herrn Schäuble auch andere, zum Beispiel Gabi Zimmer und Gregor Gysi.

Haben sich politische Parteien, ob auf nationaler oder europäischer Ebene, nicht überlebt? Gehört die Zukunft nicht den Bewegungen?
Ich verstehe ja alle Bedenken gegen Parteien. Und glauben Sie mir, ich bin in meine Partei nicht verliebt, ich bin auch nie in einen Staat verliebt gewesen. Frauen kann man lieben oder auch Männer, aber nicht Parteien und Staaten. Nur, was man wissen muss: Wenn ich etwas politisch erreichen will, schaffe ich es nicht als Einzelner. Also brauche ich eine Organisationsstruktur. Und wenn ich eine Organisationsstruktur habe, gibt es immer auch Leitungen, oder es gibt Formen der Abstimmung, die schnell gehen. Das Internet ermöglicht da heute vieles. Ich sage, wir müssen Parteien verändern, aber wir brauchen Zusammenschlüsse, wenn es so viele politische Gemeinsamkeiten gibt, dass man sich für bestimmte Dinge eben auch gemeinsam und dadurch wesentlich wirkungsvoller einsetzen kann und will.

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