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Maria Noichl: »Wir verlieren Zeit, um in die Puschen zu kommen«
Die SPD-Europaabgeordnete Maria Noichl zum EU-Fahrplan für Frauenrechte, zu Angriffen von rechts und zur Sahnehaube auf dem Cappuccino
Der Ausschuss für Gleichstellung der Geschlechter hat am Donnerstag über den sogenannten Fahrplan für Frauenrechte diskutiert, den die EU-Kommission vorgelegt hat. Sie sind nicht glücklich mit dem Papier?
Na ja, es ist natürlich gut, dass die neue Kommissarin für Gleichberechtigung, Hadja Lahbib, etwas auf den Tisch legt. Auch die generelle Richtung der Papiere ist in Ordnung. Nur hat die Kommissarin die Konkretheit vermissen lassen. Sie hat darauf verwiesen, dass die genauen Maßnahmen und Ziele erst im nächsten Jahr kommen, nämlich dann, wenn es zu einer Neuauflage der Gleichstellungsstrategie kommt. An dieser Strategie, die von 2025 bis 2030 reichen soll, arbeiten wir bereits. Aber wenn es erst im nächsten Jahr konkret wird, haben wir wieder Zeit verloren, um in die Puschen zu kommen. Und das ist auf jeden Fall deutlich zu kritisieren.
Stichwort Gleichstellungsstrategie. Das ist kein neues Instrument, entsprechende Programme gibt es bereits seit 2001. Trotzdem ist der Gleichstellungsindex seit 2010 nur um acht auf derzeit 71 Punkte gestiegen; 100 würden tatsächlich Gleichstellung bedeuten. Das sieht nach Schneckentempo aus.
Ganz genau. Wir bräuchten noch ein paar Jahrhunderte, bis wir zur endgültigen Gleichstellung kommen. Und genau das mache ich Kommissarin Lahbib zum Vorwurf. Sie erkennt die Themen, es gibt kein Erkenntnisdefizit. Es gibt aber sehr wohl ein, ich nenne es mal Anpack- und Vollzugsdefizit. Wenn ich weiß, dass Frauen beim Einkommen schlechter gestellt sind, muss ich was tun. Wenn ich weiß, dass das Thema Gewalt gegen Frauen sich in ganz Europa wie ein Krebs ausbreitet, dann muss ich was tun und mich nicht mit Strategien oder mit Papieren über Wasser halten.
Maria Noichl (SPD) ist seit der Europawahl 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments. Sie arbeitet unter anderem im Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter (FEMM) und im Ausschuss für Landwirtschaft und Ländliche Entwicklung. Zudem ist sie Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen in Deutschland.
Sie haben im Ausschuss für Rechte der Frauen und Gleichstellung der Geschlechter einen Berichtsentwurf zur Gleichstellung vorgelegt. Worin unterscheidet er sich von dem Kommissionsdokument?
Wir plädieren als allererstes für eine EU-Gleichstellungscharta, eine Charta der Frauenrechte. Warum brauchen wir die ganz dringend? Wir brauchen eine EU-Charta der Frauenrechte ganz dringend, um endlich Mindeststandards für Frauenrechte in den Mitgliedsländern so zu verankern, dass sie von nationalen Regierungen nicht einfach wieder über Bord geworfen werden. Wir haben erlebt, was in Polen passierte, als das Land unter einer sehr, sehr rechten Regierung gelitten hat. Wir erleben, was in Ungarn bei der Einschränkung von Grundrechten vor sich geht. Wir erleben aber auch Angriffe gegen Frauenrechte im ultrarechts regierten Italien. Auf einmal heißt es dort: Private Gewalt ist wieder privat. Es ist ganz offensichtlich: Unter rechten Regierungen sind Frauenrechte immer die ersten Rechte, die fallen. Was wir daher brauchen, ist eine Sicherungsgarantie, eine EU-Charta der Frauenrechte mit Mindeststandards, die nicht national umgeworfen werden können.
Sehen Sie ein konservatives Rollback bei Frauenrechten durch die Rechtsentwicklung in Europa?
Das sehen wir auf jeden Fall. Und ich möchte drei Punkte dafür benennen. Zum einen ist das vor allen Dingen eine Zurückhaltung bei Dingen, die bereits geklärt waren. Nämlich, dass wir ein Gender-Mainstreaming haben. Das bedeutet, dass wir alle Politikbereiche auch aus der Gleichstellungssicht betrachten müssen. Man hat heute das Gefühl, dass sogar das Wort nicht mehr benutzt werden darf. Auch das Wort Gender-Budgeting. Dies bedeutet, dass Frauen an den öffentlichen Geldern genauso partizipieren können wie Männer.
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Gibt es da tatsächlich so große Unterschiede?
Sie müssen mal die Finanzkataloge und die Budgets anschauen. Welche Gelder fließen eigentlich in Männerhände und welche in Frauenhände? Und dann merken wir, dass Europa schlecht aufgestellt ist. Wir haben immer noch zu viele Fördermittel, die ganz konkret in Männerhosentaschen landen, während die Frauen aber leer ausgehen. Das heißt, Europa ist noch immer eine finanzielle Umverteilungsmaschine von öffentlichen Steuergeldern, mehr in die Hände von Männern als in die Hände von Frauen. Dabei zahlen Frauen genauso Steuern wie Männer. Solche Dinge anzusprechen, wird immer schwieriger.
Sie wollten drei Punkte ansprechen.
Ja, Punkt zwei: Mittlerweile wird von manchen Gruppen das Thema LGBTI, das Thema Intergeschlechtlichkeit schon als Schimpfwort verwandt. Wir haben das auch in Deutschland so durch die AfD immer wieder kennengelernt. Manche sprechen dann von »Gender-Gaga«. Im Endeffekt geht es um das Diskreditieren eines ganzen Politikbereichs, nämlich der Gleichberechtigung von Minderheiten. Und der dritte Punkt ist die sich ausbreitende Meinung, es gehe Europa gerade nicht so gut, deswegen sei jetzt keine Zeit für Frauenrechte. Und das ist völlig falsch gedacht! Denn genau dann, wenn es einer Volkswirtschaft vielleicht nicht so gut geht, wenn wir mit Trump in Bedrängnis sind, wenn wir mehr in Verteidigung investieren müssen, genau dann müssen wir aufpassen, dass Frauenrechte nicht über die Wupper gehen. Manche glauben, die Frauenrechte sind die Sahne auf dem Cappuccino obendrauf. Wir sagen aber: Frauenrechte sind der Cappuccino. Das ist nämlich die Art und Weise, wie die Gesellschaft miteinander interagiert. Gleichstellungsrechte sind ja nicht nur Rechte für Frauen, sondern auch Rechte für Männer. Und wer glaubt, in Krisenzeiten die Gesellschaft einfach ausknipsen zu können und dann, wenn es uns wieder besser geht, wieder die Sahne auf den Kaffee zu packen, hat Gleichstellung nicht kapiert.
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