Wer hat Angst vor »Zigeunern«?

Karl Heinz Weiss über Antiziganismus heute

  • Lesedauer: 3 Min.
ND: Der 65. Jahrestag der Wannsee-Konferenz, auf der die systematische Ermordung der europäischen Juden von Technokraten des Todes erörtert worden ist, steht bevor. Hat der Holocaust einen festen Platz in der Erinnerung, so die nicht minder brutale, mörderische Verfolgung der Sinti und Roma durch die deutschen Faschisten eher nur marginal. Ihr Volk aber lebt noch mit der Vergangenheit?
Weiss: Ja. Durch den Genozid der Nazis sind wir ein traumatisiertes Volk, und diese Traumatisierung wirkt bis heute nach. Meine Eltern wurden nach Theresienstadt deportiert. Sie hatten damals einen kleinen Sohn, der gerade einmal zehn Jahre alt war. Zum Zeitpunkt der Verschleppung war mein Bruder schwer krank, er hatte starkes Fieber und das Bewusstsein verloren. Die Nazis haben meiner Mutter den Jungen aus dem Arm gerissen und ihn für tot erklärt, obwohl dies überhaupt noch nicht erwiesen, noch nicht von einem ausgewiesenen Arzt festgestellt war.
Mein Vater ist vor den Nazis auf die Knie gefallen und hat sie angebettelt, ihnen den Jungen zu lassen. Doch die sind unerbittlich geblieben, kannten keine Gnade. Sie haben meinen Bruder den Eltern nicht zurückgegeben, ihn fortgeschleppt und irgendwo verscharrt. Glauben Sie, das hat in unserer Familie jemals jemand vergessen?

Ist Antiziganismus heute nur ein historisches Phänomen? Oder gibt es ihn noch heute?
Noch heute werden wir in vielen Ländern verfolgt und diskriminiert. Auch in Deutschland erleben wir Ausgrenzung. Ein Beispiel: Die Rom und Cinti Union brauchte neue Geschäftsräume. Es hat anderthalb Jahre gedauert, bis wir ein passendes Büro gefunden haben. Wenn die Makler und Vermieter hörten, wer wir sind, dann hatten sie plötzlich keine Räumlichkeiten mehr frei. Ein anderes Beispiel: Einer meiner Kollegen wurde Vater, da wollte die junge Familie in eine eigene Wohnung ziehen. Bei der städtischen Wohnungsgesellschaft sind sie an eine Frau geraten, die ihnen, nachdem sie im Pass den Namen »Weiss« las, prompt sagte: »Ihnen vermieten wir keine Wohnung.«
Es häufen sich in letzter Zeit verbale Attacken und auch körperliche Angriffe gegen uns. Ein Junge wurde in seiner Schule brutal zusammengeschlagen, nur weil er in seiner Klasse erzählt hat, dass er mit seiner Mutter in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme war und sie ihm von den Leiden der Sinti und Roma und der anderen Häftlinge erzählt hat. Die Lehrerin brüskierte ihn mit der unverschämten Frage, wie er es wagen kann, solche Lügen zu erzählen. In der Pause ist er dann von seinen Mitschülern beschimpft und verprügelt worden.

Was kann man gegen solche, offenbar noch tief sitzenden Vorurteile gegen Sinti und Roma tun?
Das größte Problem ist die Diskriminierung unserer Kinder an den Schulen, viele von ihnen werden in Sonderschulen gesteckt, nur weil sie »Zigeuner«-Kinder sind. Damit wird ihnen jegliche Perspektive genommen. Wenn sie als Jugendliche dann abrutschen sollten, wird das Vorurteil von den »kriminellen Zigeunern« bestätigt.

Welche Unterstützung wünschten Sie sich, um Antiziganismus wirksam entgegenzutreten?
Ich erwarte überhaupt keine großen Taten, mir würde schon reichen, wenn wir alle wachsam wären und auch einschreiten würden, wenn es zu verbalen und tätlichen Angriffen kommt. Das gilt natürlich nicht nur für uns Sinti und Roma, sondern für alle, die von Ausgrenzung, Diskriminierung, Gewalt betroffen sind. Außerdem wäre uns sehr geholfen, wenn Flüchtlinge und politisch Verfolgte in Deutschland Asyl und ein Bleiberecht erhielten.

Fragen: Birgit Gärtner
Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.