Unter den Augen der Behörden
Monatelang stand der Tunesier Anis Amri unter Beobachtung, dann verlor sich seine Spur
Es war ein Angebot der besonderen Art, das die deutschen Ermittlungsbehörden da aufgezeichnet hatten. Wie der »Spiegel« am Donnerstag unter Berufung auf Sicherheitskreise meldete, soll der Terrorverdächtige Anis Amri sich vor vier Monaten für ein Selbstmordattentat angeboten haben. Dies hätten Auswertungen der Telekommunikationsüberwachung im Umfeld radikalislamistischer Prediger ergeben. Jedoch seien die Äußerungen so verklausuliert gewesen, »dass sie nicht für eine Festnahme gereicht hätten«, so das Magazin.
Davon unabhängig wurde der junge Mann von März bis September dieses Jahres observiert. Den Auftrag dazu hatte die Berliner Generalstaatsanwaltschaft gegeben, die hier eng mit dem Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen zusammenarbeitete. Gegen Amri wurde wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat ermittelt. Man vermutete, dass er einen Einbruch plante, um Geld für den Kauf von automatischen Waffen zu beschaffen - nach Angaben der Berliner Staatsanwaltschaft »möglicherweise, um damit später mit noch zu gewinnenden Mittätern einen Anschlag zu begehen«. Trotz monatelanger Beobachtung hätte sich der Verdacht aber nicht bestätigt, so die Staatsanwaltschaft. Deshalb habe man die Observation im September eingestellt. Die Überwachungen hätten Hinweise darauf geliefert, dass Amri »als Kleindealer im Zusammenhang mit dem Görlitzer Park tätig sein könnte«.
Mitte des Jahres soll Amri mit zwei tunesischen »IS«-Kämpfern telefoniert haben, so die Berliner »BZ«. Die tunesischen Behörden warnten die deutschen. Auch in Islamisten-Chats soll er sich als Selbstmordattentäter angeboten haben.
Ob der Tunesier da bereits auf der Flugverbotsliste der US-Behörden stand, war Donnerstag noch nicht klar. Die »New York Times« verwies auf anonyme Quellen bei den US-Behörden, wonach Amri sich im Netz über den Bau von Sprengsätzen informiert haben soll und wohl auch deshalb auf der Liste landete. Zudem soll er über den Internetdienst »Telegram« mindestens einmal Kontakt zum IS aufgenommen haben.
Bei den italienischen Behörden wird er als »gewalttätig« in den Akten geführt. Im Jahre 2011 war er als Flüchtling nach Italien eingereist, zuvor soll er nach Aussagen seines Vaters an einem Raubüberfall in Tunesien beteiligt gewesen sein. Radikalisiert habe er sich aber erst in Italien, zitierte die britische »Times« den Vater.
Im sizilianischen Palermo saß Anis Amri im Gefängnis. Insgesamt vier Jahre verbüßte er hinter Gittern wegen Brandstiftung, Körperverletzung und Diebstahls.
Nach seiner Entlassung reiste Amri im Sommer 2015 über Freiburg nach Deutschland ein und gab sich als Ägypter aus, der in seiner Heimat politisch verfolgt werde. Da er sich aber nicht einmal die Mühe machte, ein paar wichtige Fakten über das Land am Nil auswendig zu lernen, fiel den Behörden bei der Prüfung seines Antrags schnell auf, dass er nicht aus Ägypten stammen konnte. Zudem sollen entsprechende Recherchen im Kerndatensystem des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) damals ergeben haben, dass er bei verschiedenen deutschen Behörden unter mehreren Namen registriert worden sei, so der »Spiegel«. Sein Asylgesuch wurde als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt.
Eine im Sommer vorgesehene Abschiebung konnte nicht erfolgen, da Amri keine tunesischen Ausweispapiere hatte. Diese seien wohl erst in dieser Woche eingetroffen, wie Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD) am Mittwoch erklärte. Der als »islamistischer Gefährder« eingestufte Amri tauchte spätestens im Dezember ab. Im November 2016 war er letztmalig Thema im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern, dem GTAZ in Berlin.
Die erste Spur nach seinem Abtauchen war dann der Fund seiner Geldbörse im Fahrerhaus des Terror-Lkw. Allerdings erst am Dienstagnachmittag, also fast 20 Stunden nach dem Anschlag. Da das Cockpit schwer beschädigt war, habe man die genaue Spurensuche erst im Landeskriminalamt vorgenommen, erklärten die Ermittler später die Verzögerung. Bis Donnerstag galt die Geldbörse offiziell als einziges Indiz für die Täterschaft Amris. Doch dann konnten auch die Fingerabdrücke des Tunesiers am Fahrzeug nachgewiesen werden, wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) bestätigte. Es gebe zudem »andere zusätzliche Hinweise« darauf, dass der Tunesier »mit hoher Wahrscheinlichkeit der Täter ist«.
Unklar war am Donnerstagabend, ob Amri Helfer hatte und ob es Zufall war, dass der Tunesier, der lange in Italien lebte, ausgerechnet einen aus dem italienischen Turin kommenden Truck in seine Gewalt brachte.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.