Sprachmächtige Reise durch eine verlorene Zeit
»Denk an Famagusta« - ein Romanexperiment von Alexander Goldstein
Die Literaturgeschichte kennt Bücher, die der Leser beim besten Willen nicht im ersten Anlauf bewältigt, die er jedoch, ist sein Interesse geweckt, immer wieder liest. Das gilt nicht nur für virtuose Sprachschöpfungen wie »Gargantua und Pantagruel« von François Rabelais oder »Ulysses« von James Joyce. Auch die russische Literatur des 20. Jahrhunderts kennt solche schier unausschöpfbaren Werke: Andrej Platonows »Die Baugrube«, Pawel Salzmans »Die Welpen«, Sascha Sokolows »Die Schule der Dummen« oder Michail Schischkins »Die Eroberung von Ismail«. Ein aktuelles Beispiel für einen komplexen, nicht leicht zugänglichen Text ist der Roman »Denk an Famagusta« des russisch-israelischen Schriftstellers Alexander Goldstein.
Goldstein wurde 1957 im estnischen Tallinn als Sohn eines jüdischen Journalisten geboren, verbrachte seine Kindheit im aserbaidschanischen Baku und studierte an der dortigen Universität Philologie. 1988 promovierte er über die Tradition der europäischen Aufklärungsprosa und das Schaffen des Dichters und Philosophen Mirsa Achundow, der die klassische aserbaidschanische Prosa und Dramatik begründete. Seit 1991 lebte er in Tel Aviv, schrieb für renommierte Zeitschriften in Israel und Russland literaturwissenschaftliche Essays, die durch thematische Breite, kühne philosophische Fragestellungen und stilistischen Glanz die Elite der russischsprachigen Intelligenz in ihren Bann zogen. Der Essayband »Abschied von Narziss« (Moskau 1997) wurde mit dem »Kleinen Booker« und dem »Anti-Booker« ausgezeichnet. 2006 starb Goldstein an Lungenkrebs. Er blieb zeitlebens ein Einzelgänger, was vor allem sein Roman »Denk an Famagusta« (Moskau 2004) bestätigt, den er von Januar 2002 bis Dezember 2003 schrieb.
An Gedanken von Lidija Ginsburg, Carlos Castaneda, William Burroughs, Warlam Schalamow, Jewgeni Charitonow und Eduard Limonow anknüpfend, entwickelte Goldstein den Begriff der »existenziellen Literatur«, die ohne Rücksicht auf den etablierten Kanon mit eigener Sprache und originärem Stil den Autor und seine Zeit authentisch darstellen soll. Trotz dieser Zielstellung ist »Denk an Famagusta« kein autobiografischer Roman und kein zeitgeschichtliches Panorama. Eher liefert das Buch die Innenansicht eines Ich-Erzählers, der zwar streckenweise mit dem Autor identisch zu sein scheint, aber mit jedem Wechsel seiner Kommunikationsstrategie sein Aussehen wechselt, Gestalt und Stimme verändert, glaubhaft oder unglaubwürdig agiert, Personen und Ereignisse sachlich beschreibt oder seine auktoriale Inkompetenz offen zugibt.
Wortreich schildert er eine Stadt, in der die aserbaidschanische, armenische, iranische und russische Kultur, der Islam mit seinen Spielarten, das orthodoxe Christentum, das Judentum und der westliche Atheismus aufeinander treffen, ohne ihren Namen zu nennen, doch der Leser errät schnell, dass es sich um Baku handelt. Das Roman-Ich erklärt: »Ich bin absolut kein Historiker, vielleicht bringe ich etwas durcheinander, in meinem Kopf geht alles drunter und drüber, löffeln Sie doch den Brei der Chronologie selbst aus.«
»Denk an Famagusta« sei eine für die Literatur unerlässliche Idee, ein Erzählmotto, eine Warnung vor dem Vergessen, die sich unmittelbar auf die 1974 erfolgte Teilbesetzung Zyperns mitsamt der Hafenstadt Famagusta durch die Türken beziehe.
Goldsteins Buch kreiert eine barocke Welt mit eigenen Konventionen und Gesetzen. Es lässt kaum eine Person oder ein Ereignis aus, die für die letzten drei Jahrhunderte von Bedeutung sind, ganz gleich, ob realer Natur, wie der armenische Schriftsteller Abowjan, der aserbaidschanische Autor Ordubady, Kemal Atatürk, Ajatollah Chomeini, Gaddafi, Rosanow, Chlebnikow, Lenin, Breshnew, die Oktoberrevolution und das Straflager auf der Weißmeerinsel Solowki, oder fiktiven Charakters, wie der Priester Paissi, der Lehrer Yaschar-Muallim, der Redakteur der satirischen Zeitung »Molla Nasreddin« Djalil, der Zeichner Ismail-Efendi, der Gladiator Mgojan und der Abenteurer Galperin.
Die Darstellung könnte kaum aufrichtiger sein, spart auch mit Gewaltszenen, deftiger Erotik und fast-pornografischen Episoden nicht. Schließlich erweist sich jedes Detail als Bestandteil einer mentalen Reise durch eine verlorene Zeit und den mit dem Untergang der Sowjetunion verlorenen »imperialen« Raum, einer unendlichen Suche nach dem Sinn des Seins sowie den sittlichen Grundpfeilern des eigenen Lebens. Regine Kühn vollbrachte mit der Übersetzung von »Denk an Famagusta« und der Erarbeitung des Anmerkungsapparates eine titanische Leistung.
Der russische Schriftsteller Michail Schischkin sagte in einer Rede an der Columbia University, Goldstein stehe an der Spitze der russischen Literatur. Eines Tages werde man unsere Zeit als Goldstein-Epoche betrachten. Wer wissen wolle, welcher russische Schriftsteller heute wichtig sei, müsse Goldstein lesen.
Alexander Goldstein: Denk an Famagusta. Roman. Aus dem Russ. von Regine Kühn. Nachwort: Irina Prochorowa. Matthes & Seitz, 537 S., geb., 26,90 €.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.