Werbung

»Da wurde nichts neu erfunden«

Ton Steine Scherben Family über das Erbe Rio Reisers und den Traum von damals

  • Lesedauer: 4 Min.
Rio Reiser und Ton Steine Scherben wurden Anfang der 1970er Jahre zum Sprachrohr einer rebellischen und verzweifelten Generation. Der Einfluss der Band auf die deutschsprachige Rockmusik ist immens. 22 Jahre nach ihrer Trennung und 11 Jahre nach Reisers Tod gehen die Musiker jetzt als Ton Steine Scherben Family wieder auf Tournee. Olaf Neumann traf den Kern der Band in Hannover.
ND: Schon wieder eine Wiedervereinigung - nun von Ton Steine Scherben? Warum eigentlich?
Marius del Mestre: 2004 ist das Haus unseres Gitarristen und Songschreibers Lanrue in Portugal komplett abgebrannt. Daraus wurde die Idee geboren, am ehemaligen Bandwohnsitz in Fresenhagen ein Solidaritätskonzert zu machen. Danach hatten wir das Gefühl, bis zum nächsten Mal nicht wieder zehn Jahre warten zu wollen. Das war der Beginn der Ton Steine Scherben Family.

Habt Ihr Angst, dass die Tour als pure Nostalgie abgetan wird?
Marius del Mestre: Wir wollen auf keinen Fall eine reine Nostalgie-Show machen. Wären die Lieder nicht mehr aktuell, würden wir sie nicht mehr singen. Die politische Lage spielt uns dabei in die Hände. Heute ist fast alles noch schlimmer als früher. Während ein Song wie »Sklavenhändler« unheimlich gut in die Zeit passt, haben wir »Die letzte Schlacht gewinnen wir« aussortiert. Weil wir nicht sicher sind, ob die Aussage stimmt. Aber wir hoffen es (lacht).

In einem Werbespot einer Handelskette erklingt neuerdings Rio Reisers »König von Deutschland« an. Das ärgert viele Fans.
Marius del Mestre: Auch wir waren darüber regelrecht geschockt. Zuerst dachte ich, das ist eine einmalige illegale Aktion von Media Markt. Es stellte sich aber schnell heraus, dass Rios Erben das tatsächlich genehmigt haben. Dabei sollte sich derartiges eigentlich von selbst verbieten. In dieser Hinsicht sind wir mit unseren und Rios Fans total solidarisch. Jetzt kann man den Song, der ja ursprünglich noch von den Scherben stammt, erst recht nicht mehr live spielen.

Der Vorwurf, das Werk der Scherben werde entpolitisiert, ist in letzter Zeit häufig gefallen.
Marius del Mestre: Im Moment habe ich das Gefühl, als wollten Rios Brüder aus seinem Leben eine bildungsbürgerliche Biedermeiergeschichte machen. Das wird ihm leider überhaupt nicht gerecht. Man kann Rio nicht auf einen »wertvollen deutschen Dichter« reduzieren. Rio war viel mehr.

Marius del Mestre hat bei den meisten Titeln den Part Reisers übernommen. Ein schweres Erbe?
Marius del Mestre: Gegen Rio antreten zu wollen ist illusorisch. Das ist auch nicht Sinn der Sache. Der einzige Weg ist, die alten Songs auf unsere persönliche Weise zu interpretieren. Es gibt viele Scherben-Coverbands, die versuchen, wie Rio zu singen. Das halte ich für fragwürdig.

War es für Euch als linke Revoluzzer, die Songs über Hausbesetzungen sangen, in den konservativen Siebzigern unmöglich, einen Plattenvertrag zu bekommen?
Kai Sichtermann: Eigentlich nicht. Für uns stand die Industrie von Anfang an überhaupt nicht zur Diskussion. Deswegen gründeten wir unser eigenes Label David Volksmund Produktion. Nichtsdes-totrotz bekamen wir immer Angebote von großen Firmen. Rebellion und die CBS - das hätte aber nicht gut zusammengepasst. Die Scherben waren immer sehr authentisch. Das war nicht nur eine Band, sondern eine Lebensidee: Zusammen wohnen, zusammen arbeiten, zusammen Dinge erfinden.

Euer Manager Nikel Pallat zerhackte 1971 bei einer WDR-Talk-show den Studiotisch. Welche Folgen hatte das für die Band?
Kai Sichtermann: Das gehört auf jeden Fall unter die Top 20 der spektakulärsten Aktionen der RocknRoll-Geschichte! Fürs Ima-ge wars gut, aber medientechnisch eher ein Rückschlag. Die Folge war, dass unsere Platte »Keine Macht für Niemand«, die kurz nach der besagten Talkshow herauskam, nicht in einer einzigen Zeitung oder Radiosendung besprochen worden ist. Nach der Hackebeilgeschichte wurden wir von sämtlichen Medien totgeschwiegen. Aber wir haben trotzdem gut verkauft, weil wir wirklich jeden einzelnen Berliner Plattenladen persönlich anfuhren. Das war noch deutsche Handarbeit! Alle Scherben-Tonträger zusammen haben sich auf diese Weise etwa eine halbe Million Mal verkauft.

Welche politischen Spuren haben die Scherben nach all den Jahren hinterlassen?
Kai Sichtermann: Wenn die Kids von heute unsere Lieder singen, ist das eine ganz tolle Sache. Weil die Inhalte nichts an Aktualität verloren haben. Vielleicht gibt es demnächst ja wieder mehr Leute, die mit den Verhältnissen unzufrieden sind, weil ihre Zukunft verkauft wird. Ich hoffe mal, dass sich die Jugend früher oder später nicht mehr verarschen lässt. Die werden durch unbezahlte Praktika geschleift; und es wird für sie immer schwieriger, sich eine Existenz aufzubauen. Unser Job ist unter anderem, die Jugend rebellisch zu machen.

Wie schaut Ihr heute als ältere Menschen auf die Revolutionsbegehren von damals? Gehörte das zur Jugend dazu oder ist das ein zeitloses Lebensmuster?
Angie Olbrich: Ich bin heilfroh, dass ichs mitgemacht habe. Mein Lebensgefühl ist aber immer noch das gleiche. Vor zwei Jahren war ich mal wieder im Rauchhaus in Berlin. Ich gehörte ja damals zu den ersten Besetzern. Ich fand es ganz seltsam, dass sich dort überhaupt nichts verändert hat. Alles sah genauso aus wie 1972. Da wurde nichts neu erfunden.

Und was ist aus dem Traum geworden, den Ihr damals geträumt habt?
Kai Sichtermann: Wir träumen ihn weiter. Visionen sind sehr wichtig. Auch wenn sie manchmal unerreichbar sind, muss man sie haben, um eine Richtung zu finden, in die man hin will. Ein Leben ohne Visionen fände ich bedenklich.
Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.