Der Zauber der Sackgasse

Botho Strauß und sein neues Buch »Oniritti Höhlenbilder«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Es ist ein Glück, sich täglich - und vielleicht immer rücksichtsloser - der eigenen Unerklärbarkeit bewusst zu werden. Botho Strauß drückt das in seinem neuen Buch so aus: »Nie würde er sagen: Ich verstehe die Welt nicht mehr. Sondern: Meine Jahre haben mich Unverständigen hervorgebracht, den viel mehr wundert als ein Kind.« Also: Meide zu viel Vernunft, sie trocknet dich aus; misstraue der Dialektik, sie ist die große Klugscheißerin; geh der Spaßintelligenz aus dem Weg, die mit Spottschablonen langweilt; erstick das obligate Diskurswort, es kommt nicht wirklich aus dir selbst - bleib verlässlich in dem, was du verschweigst.

Botho Strauß ist einer der wesentlichen deutschen Dichter, weil er so konsequent ablehnt, sich entlang fester Weltbegriffe zu bewegen. »Ein nicht ausübender Gesellschaftsmensch« (Thomas Oberender). Wenn er etwas herbeisehnt, dann dies: dass wir den »Sinn für fernes Licht« erneuern, denn »weshalb sich das Licht zur Aufklärung verminderte, die Aufklärung zum hellen Kopf, der helle Kopf zum matten Schein der Monitore, diese Universalgeschichte des Dimmens erkläre mir einer!«

»Oniritti Höhlenbilder« heißt Strauß’ neues Buch. Der Titel koppelt das griechische »oneiros« (Traumgesicht) mit dem Begriff »Graffiti« - so entstanden dem Dichter »Bildschriften auf der Höhlenwand der Nacht«. In unserer Welt der Enthüllungen verschleiert dieser Autor. In gewachsener Gier nach Verdeutlichung umnebelt er. In der Grelle der Ratio schwärzt er heiter ein. In dieser öden Weltweite beschwört er den Innenraum. Dieser Dichter ist dunkelsüchtig, weil erst alles Finstere, Unerkennbare die Leuchtkräfte erotisiert. Und so schreibt er, als wandere er durch Unterführungen, durch Höhlungen unter dem Lärm, in Tunneln zwischen den Zeiten.

Ein Buch der Denkbilder, Reflexionen, Beschreibungen. Schneidend scharf in der Analyse unserer flachen Gesellschaft, dann wieder traumwandlerisch schön in jener Stimmung, die das Ungefähre bevorzugt. Herz- und kopfdiagnostische Stenogramme, die unsere Realität verlassen, um ihr aus fantastischsten Abständen den Zerrspiegel vorzuhalten. Unseren zwei Identitäten, die am Ende so quälend oft nur eine halbe ergeben. Denn als Arbeitswesen verwerten und verwalten wir - als Freizeitwesen aber, hineingestellt in die Gesetze von Markt und Konsum, sind wir dann selber Verwertete und Verwaltete. Sind oft genug Funktionszyniker, privat jedoch beharren wir auf unserer Sensibilität. Kapitalistisch eingebunden und angestellt, bleibst du rund um die Uhr objektiver Mitentfessler von Katastrophen, für dich allein genommen bist du allerdings die Harmlosigkeit selber. So sind wir, und wir wissen, dass wir so sind - das ungute Gefühl und ein Schimmer Traurigkeit lassen sich also nicht vermeiden. Aber dieses Unglück gestehen? Porenöffnung? Seelenentriegelung? Nein, Geschäftsinteresse geht vor: also den Riegel nur fester vorschieben! »Der Mensch lässt sich heute von innen nach außen leichter umgestalten als eine Schaufensterdekoration«, hat Strauß einmal geschrieben.

»Beliebig Zugespieltes aus der Schädel-Krypta« nennt er die neue Sammlung. Wieder also Geschehnisse, die sich nicht fügen und doch zusammenhängen; der ewige spielerische, nicht vollendbare Roman eines philosophischen Denkens wider die Plapperei der gelösten Zungen. Wir begegnen Nachteinäugigen, einem Gottunmittelbaren und einem Skelett als Ideal stummer Zwiesprache; wir treffen auf ein ganzes Zugabteil voller Enttäuschter und einen Schiffbauingenieur, der Life-Mitschnitte von Abstürzen aller Art sammelt; auf Abwege geht eine der Hexen aus »Macbeth«, und dort drüben, da sitzt jene Frau, »die bekannt ist für ihre Schreie«. Logischerweise wird von Deutschlands kultiviertestem Dramatiker immer wieder, als Bild-Raum, auch das Theater aufgerufen, dieser fensterlose Illusionsort der unentwegten Schein-Werfer.

Strauß trägt auch in diesen Miniaturen einen Stolzpanzer des Hermetischen, aber diese abweisende Härte gleicht eher dem »Blütenstaub« des Novalis. Er ist ein Utopist im rückwärtigen Dienst: Vergangenheit ist ihm nicht eine reaktionäre Beschwörung geschichtlich überwundener Zustände, sondern ein Aufruf dessen, was wir als ewigen Haushalt der Gestimmtheit, der Ausgesetztheit, der Ohnmachtswürde in uns tragen. Weit weg vom »plumpen roten Theatervorhang, hinter dem täglich eine neue Operette der Emanzipation einstudiert« wird.

Er glaubt an unsichtbare Verbindungen zu ferneren, früheren Kräften. »Jene Geister in der Verborgenheit, die über uns Wache halten«. Was Strauß schreibt, ist Dichtung abseits dieser knechtischen Prokuristen-Beflissenheit, mit der wir »Emsen des Entdeckens« unentwegt Meinung und Gegenmeinung betreiben. Sein Geist leuchtet in dem, was gerade nicht von Redaktionsschluss zu Redaktionsschluss so mürbend und öde zur Debatte steht. Sage doch keiner, die Melancholie der Stilisten gehöre nicht zum Bauplan einer suchenden Gattung. Literatur ist ihm eine »datenfreie Herberge«, sie bietet Asyl »vor der Menschheitsseuche Kommunikation, Exhibition, Information.«

Von Gottfried Benn weiß Strauß, was von allem bleibt: »Die Leere und das gebrochene Ich.« Ich lese diesen Autor und wünsche mir, zum Beispiel, die Rückkehr des Leitartiklers zum Menschen: Es geschähe in dem Moment, da dieser - einmal nur! - über sein Los in Weinen ausbricht. Dieses Los, ständig starr in ein vermeintliches Zentrum zu blicken und im vergänglichsten Stoff zu wühlen, den das Allgemeine aufbieten kann. Es sei schön, hat Strauß einmal gesagt, in der Erhebung zu stehen, das Herz voll Umsturzfreude - es sei aber auch schön, keine Revolution mehr vor sich zu haben. Und also in ein Denken verwickelt zu sein, dass unter Utopie nur immer das versteht, was man schon -zig mal verklärt hat.

In »Oniritti« erweist sich Strauß einmal mehr auch als der theoretisierende Poet, der wie kein anderer unterschiedlichste Paar-Beziehungen beleuchtet. Niemand hat sie auf hauchdünnem Eisgrund bürgerlicher Sicherheiten so scharf erfassen können und das Irrationale darin so ironisch irrlichternd aufblitzen lassen wie er. Auch das neue Buch ist ein Wanderführer ins Unbewusste - einzig die Verirrungsmöglichkeiten sind bestens ausgeschildert. Wenn Strauß Mann und Frau aufeinandertreffen lässt, vollzieht sich Begegnung als ein so kämpferischer wie hilfloser Ausdruck von etwas doch niemals Überwindbarem: Nähe nämlich. Nähe - zu welchem Menschen, zu welcher Idee auch immer - ist nicht wirklich möglich, ohne dass Verletzung die Szene betritt und uns Wundstellen zuweist. Auch intensivste Liebe bleibt eine nie abgeschlossene Unterhaltung Einsamer.

Paare werden von Strauß in all der Profanität alltäglicher Abläufe beobachtet, dann aber unversehens hinübererzählt in Fantasien ganz aus Zwielicht. Das klar Sichtbare verwandelt sich ins Verschwimmende, und die Menschen dieser Prosa rutschen mit, verlieren ihre reale Gestalt, werden zu Gespenstern und Fabelwesen, die tragikomisch herumzappeln. Frauen und Männer, lauter gemischte Doppel, verlieren in des Dichters Geschichtenmosaik ihre Kenntlichkeit und - als arbeiteten da Shakespeares Luftgeister - werden sich selber zu Unbekannten. Was ist wahr, was ist Täuschung; was ist wirklich, was ist Einbildung; was ist Gemeinsamkeit und was nur deren Trugbild. So offenbart sich in dieser Prosa ein vielseitig verhaktes Kennenlernen und Auseinandergehen, Verhüllen und Entblößen; Ekstasen des Sexus verschleudern sich ins Lächerliche, ins Absurde, ins Erbärmliche. Wir betrügen andere Menschen nicht mit anderen Menschen, sondern immer ausschließlich mit uns selber.

Diese Texte sind ein Splitterregen. Eine elementare Wonne. Tropfenfülle und Teilchenzauber. Der Weg zu den Teilchen freilich als Pfad, um Genaueres vom Ganzen zu erfahren. Man möchte fortwährend zitieren. »Wir wissen bis heute nicht, ob wir für die Chance oder das Missgeschick geboren sind.« - »Was ich früher dachte, war des Frühen wegen falsch. Was ich später dachte, war des Späten wegen falsch.« - »In der Sackgasse zu leben heißt vom Durchgangsverkehr verschont bleiben.« - »Die Würfel sind gefallen. Wir kennen die uns betreffende Augenzahl nicht.«

Dieses bezaubernde Buch wischt nicht über alles hinweg, was dem Verstandeshorizont fremd bleibt. Es flüstert dir ein: Widersteh dem Gedanken, der dir plausibel erscheint; sei nicht gefällig zu dir selber, sei dein lebensspendender Attentäter: Spreng deinen geistigen Horizont!

Botho Strauß: Oniritti Höhlenbilder. Hanser, 288 S., geb., 22 €.

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