Geheime Jungen und Mädchen
Die Kinder der Attentäter vom 20. Juli 1944 wurden von den Nazis nach Bad Sachsa im Südharz verschleppt
Düster und verlassen stehen die Häuser am Waldrand. Die Wände aus dunklem Holz, die Dächer weit heruntergezogen - wie eine Kappe, die das Gesicht verbergen soll. Und die Geschichte. Ein Bremer Kaufmann hatte die Gebäude 1935 etwas außerhalb der Kleinstadt Bad Sachsa im Südharz als Erholungsheim für Arbeiterkinder gebaut. Nur ein Jahr später wurde der Besitz enteignet und das Kinderheim »Bremen« der »Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt« übertragen.
In den letzten Juli-Tagen des Jahres 1944 wird das Heim auf Weisung des Reichssicherheitshauptamtes überstürzt geräumt. 200 Kinder und Jugendliche, die dort gerade ihre Ferien verbringen und Fahnenappelle üben, sowie einige Dutzend Schwesternschülerinnen müssen die Gebäude verlassen.
Gestapo-Männer durchsuchen das Gelände nach möglicherweise Versteckten und verpflichten die Kindergärtnerinnen zu absolutem Stillschweigen über den Grund der hastigen Aktion: In dem Heim soll Platz geschaffen werden für die Kinder der Verschwörer, die nach dem Scheitern ihres Attentats vom Juli 20. Juli 1944 eingesperrt oder schon hingerichtet worden sind.
Seit kurzem dokumentiert eine Ausstellung mit dem Titel »Unsere Identität sollte vernichtet werden« das Schicksal der nach Bad Sachsa verschleppten Mädchen und Jungen. Die Schau im Obergeschoss der Tourist-Information beginnt mit einem Rückblick.
Ein sofortiges Ende des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Kriegs- und Gewaltverbrechen - das sind die wichtigsten Ziele der zivilen und militärischen Oppositionellen, die seit dem Herbst 1943 einen Anschlag auf Adolf Hitler vorbereiten. Claus Schenk Graf von Stauffenberg gelingt es auch, am 20. Juli des Folgejahres einen Sprengkörper in das »Führerhauptquartier Wolfsschanze« einzuschleusen und zur Explosion zu bringen. Aber das Attentat scheitert, Hitler wird nur leicht verletzt.
Stauffenberg und vier andere Offiziere werden noch am selben Abend im Hof des Bendlerblocks in Berlin erschossen. In den Folgetagen nimmt die Gestapo mehr als 600 Personen fest. Der »Volksgerichtshof« verhängt über 100 Todesurteile. Viele Ehefrauen, Geschwister und Eltern der Verschwörer vom 20. Juli sowie von Widerstandskämpfern, die sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft dem Nationalkomitee »Freies Deutschland« angeschlossen haben, kommen in Sippenhaft.
Für ihre Kinder sucht die »Sonderkommission 20. Juli« ein Heim mit einer großen Kapazität und in einer geeigneten Gegend: Bad Sachsa liegt nah beim Konzentrationslager Mittelbau-Dora, wo Häftlinge unter der Erde Teile der angeblichen Wunderwaffe V 2 zusammensetzen müssen. Gestapo und SS haben in dem Hochsicherheitsgebiet praktisch unbegrenzte Vollmachten. Ab Mitte August treffen die ersten Kinder in den inzwischen geräumten Häusern ein. Insgesamt werden dort, nach Alter und Geschlecht getrennt, 46 Mädchen und Jungen aus 18 Familien festgehalten.
Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld war mit damals 15 Jahren das älteste in den Südharz verschleppte Kind. Als die Gestapo ihn und seine Familie am 7. August 1944 aufsuchte, habe er höflich gefragt, was sie denn wollten, schilderte Schwerin bei der Ausstellungseröffnung seine Erinnerung. Völlig verdutzt von dieser Frage hätten die Geheimpolizisten etwas von einer Ferienreise gemurmelt. Mit dem Zug habe ihn seine Reise dann zuerst in das Gefängnis in Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern geführt und von dort nach Bad Sachsa.
Nach der Ankunft müssen die Kinder alle persönlichen Erinnerungsstücke, Fotos von Eltern und Geschwistern oder Briefe abgeben. Sie erhalten neue Familiennamen, die jüngsten auch neue Vornamen. Die Kindergärtnerinnen sind angehalten, die Identitäten der Jungen und Mädchen und ihre familiären Bindungen zu zerstören. Bei Schwerin scheitert das Unterfangen: »Mein Bruder, der meine alte Lederhose trug, in der mein Name stand, zeigte diese jedem mit dem Hinweis, dass er zwar nicht sagen darf, wer er sei, sie aber ja lesen könnten«, erzählt er. Ob zumindest die jüngeren Kinder zur Adoption freigegeben werden sollten, lässt die Ausstellung offen. Die älteren sind wohl - unter ihren neuen Namen - für den Besuch nationalsozialistischer Internate vorgesehen.
»Mit kurzem ›Heil Hitler‹ wurden wir im Büro begrüßt, dann kamen drei Kindergärtnerinnen, und jede nahm einen von uns mit. Wir waren getrennt worden«, beschrieb die damals zwölfjährige Christa von Hofacker die Ankunft in ihrem Tagebuch. Die Gestapo hatte sie gemeinsam mit ihrem neunjährigen Bruder Alfred und der sechsjährigen Liselotte am 24. August 1944 von Zuhause abgeholt. Ihr Vater, der Luftwaffenoffizier Cäsar von Hofacker, ein Cousin von Stauffenberg, war da schon seit vier Wochen verhaftet. Auch die Mutter und die beiden ältesten der fünf Kinder saßen schon seit dem 30. Juli im KZ - zunächst in Stutthof, dann in Buchenwald und schließlich in Dachau.
Die Kinder dürfen das Gelände nicht verlassen oder mit den Einwohnern der Stadt sprechen. »Es war schrecklich, wie geheim wir gehalten wurden, keinen Schritt alleine vor die Tür, ja mit niemanden reden und um Gottes Willen nichts über Namen und Herkunft verlauten lassen«, notierte Christa.
Im Oktober 1944 werden viele Sippenhäftlinge überraschend entlassen. Die Kinder, deren Mütter sich unter den Freigelassenen befinden, können jetzt zu ihren Familien zurückkehren. Für die übrigen werden die Regeln etwas gelockert, sie erhalten zu Weihnachten kleine Geschenke, Christa bekommt sogar einen Hund.
Der Krieg liegt in den letzten Zügen, als die Wehrmacht Ende Januar 1945 fast alle Gebäude des Kinderheims beschlagnahmt und zu einem Stabsquartier umfunktioniert. Heimleiterin Elsa Verch erhält den Auftrag, die verbliebenen 14 Kinder ins KZ Buchenwald zu bringen, wo immer noch viele ihrer Mütter und Verwandten interniert sind. Gerade als der Lkw Bad Sachsa verlässt, starten Flugzeuge der Alliierten einen Großangriff auf das nahe Nordhausen. Auch Straßen und Bahnverbindungen werden bombardiert, der Lastwagen muss umkehren und bringt die verängstigten Kinder nach Bad Sachsa zurück. In Briefen, Aktenvermerken und auf Fotos können Besucher der Ausstellung nachverfolgen, wie der Wehrmachtstab das Gelände wieder an das Kinderheim zurückgibt und nach Bayern flieht. Die Kinder und einige Betreuerinnen bleiben alleine zurück.
Am 12. April 1945 besetzen Einheiten der US-Armee Bad Sachsa. Sie setzen den Sozialdemokraten Willi Müller als kommissarischen Bürgermeister ein, der in seiner ersten Amtshandlung die Kinder unter seinen persönlichen Schutz stellt. Sie erhalten ihre echten Namen zurück und werden offiziell in der Stadt angemeldet. Doch die meisten können erst im Sommer oder Herbst 1945 zu ihren Müttern zurückkehren. Als letzte werden Hildegard Gehre und Renate Henke, Tochter und Stieftochter des im KZ Flossenbürg ermordeten Offiziers Ludwig Gehre, im November zu einem Onkel auf die Nordseeinsel Föhr gebracht. Im Lager hatten die beiden Mädchen die Nachnamen Georgi und Heine erhalten.
»Lange Zeit wollte niemand hier über die Kinder und ihre Schicksale sprechen«, räumt der heutige Bürgermeister Axel Hartmann von der CDU ein. »Die, die etwas darüber wussten, und das waren wenige, schwiegen beharrlich. Auch alte Bad Sachsaer, die ich noch in den letzten Monaten befragen wollte, winkten ab. Niemand war bereit, Auskunft zu geben.« Er selbst, sagt Hartmann, habe in seiner Jugend erlebt, dass die Attentäter des 20. Juli von der Kriegsgeneration nicht als Helden gefeiert, sondern als »Vaterlandsverräter« gebrandmarkt wurden. Ihre Rehabilitierung sei viele Jahre verzögert worden, die Hinterbliebenen hätten mit geringen Renten auskommen müssen.
Nach seinem Amtsantritt vor zwei Jahren organisierte CDU-Mann Hartmann, der als Konsul an der westdeutschen Botschaft in Budapest in den 1980er Jahren DDR-Bürgern zur Ausreise verhalf, bei der Bundesregierung finanzielle Unterstützung für die Ausstellung. 80 000 Euro sind in das Projekt geflossen. Die mehr als 300 Fotos und Dokumente sollen mindestens für zehn Jahre, vielleicht aber auch dauerhaft in der Stadt gezeigt werden.
»Vor allem die jüngere Generation soll wissen, dass die Gefahr von rechts kein geschichtliches Phänomen ist«, sagt Bürgermeister Hartmann. »Sondern auch in unseren Tagen gilt: Wehret den Anfängen! Wir müssen auch vor allem die Jugend über das informieren, was sich hier vor 72 Jahren ereignet hat.«
In die Gebäude des Kinderheims »Bremen« zog nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst ein Kinderkrankenhaus, Kinder aus dem ausgebombten Dresden waren 1945 die ersten Patienten. 1992 wurde das Hospital geschlossen, seitdem stehen die Häuser leer, die meisten sind beschädigt und verfallen. Das Gelände zwischen den Gebäuden beherbergt einen kleinen Campingplatz. Ein Investor, der einen Teil des Areals und der Häuser aufgekauft hat, will dort irgendwann einen Ferienpark errichten.
»Das ist ein Jammer«, sagt der Rentner Bernhard Schwartz, der auf seinen Spaziergängen regelmäßig an der Waldlichtung oberhalb von Bad Sachsa vorbeikommt. Er ist der Meinung, »dass die Ausstellung hierher gehört hätte, wo die verschleppten Kinder eingesperrt waren«.
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