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Unterwegs im Patchworkzug

Mit Locomore hat die Deutsche Bahn hat auf der Strecke Stuttgart-Berlin private Konkurrenz bekommen

  • Hans-Gerd-Öfinger
  • Lesedauer: 7 Min.

An diesem grau-trüben Vormittag scheint alles wie am Schnürchen zu laufen. Der gut besetzte Zug mit der Kurzbezeichnung »LOC 1818« auf dem Weg von Stuttgart nach Berlin-Lichtenberg fährt pünktlich um 8.27 Uhr in den Frankfurter Südbahnhof ein und drei Minuten später wieder los. Auch die nachfolgenden Halte bis Berlin erreicht und verlässt der Zug planmäßig. Die Reisezeit ist mit sieben Stunden von der Schwabenmetropole bis in den Osten der Bundeshauptstadt durchaus attraktiv.

Die elektronische Buchung und Reservierung hat einen Platz in einem Themenabteil vorgesehen. Mit diesem durchaus originellen Einfall möchte der Zugbetreiber, die Locomore GmbH & Co. KG, bestimmte »Communities« und Gleichgesinnte anlocken und zusammenbringen. So können Reisende je nach Lust und Neigung über Eisenbahnen oder Sport fachsimpeln, Englisch sprechen oder sich mit Häkeln, Stricken und Brettspielen die Zeit vertreiben. Doch an diesem Wintervormittag kommt wenig Kommunikation an Bord von »LOC 1818« auf. Viele Fahrgäste schlafen, dösen, spielen mit ihrem Smartphone oder blättern in einem in den Abteilen ausliegenden Magazin für erneuerbare Energien.

Die in Berlin-Lichtenberg beheimatete »Start-up«-Bahn Locomore zieht ein breites Fahrgastspektrum an. Wer für ökologische Fragen aufgeschlossen ist, freut sich besonders über das Bekenntnis des Unternehmens zum Antrieb durch Ökostrom sowie die größtenteils aus ökologischem Anbau und fairem Handel stammenden Speisen und Getränke des Cateringservices, den fleißige Locomore-Bedienstete am Platz anbieten. Ein Faltblatt bietet Köstlichkeiten wie Bircher-Müsli im Weckglas, Braunhirse-Sandwich, Ökovital Gummibärchen und Bio-Cola an.

An Bord sind etliche junge und jung gebliebene, zeitlich flexible und preisbewusste Menschen. Wer einen schmalen Geldbeutel hat, würde auch den Fernbus nutzen, zieht jedoch den bequemeren und auf dieser Route quer durch die Republik auch schnelleren Zug vor. Loco-more-Kunden sind Menschen, die sich nicht am flotten »Du« auf dem Faltblatt stören. Sie schätzen, dass der Höchstpreis für den Ticket-Basistarif noch unterhalb des Bahncard-50-Flexpreises der Deutschen Bahn liegt.

Viele finden Gefallen an den aufgehübschten, gemütlich-kuscheligen Abteilen in den Intercity-Wagen der alten Bundesbahn aus den 1980er Jahren mit den ausziehbaren, knallroten Sitzen, die in den meisten Fernzügen anonymen Großraumwagen gewichen sind. Ältere Jahrgänge können dabei in Erinnerungen an ihre Jugendzeit und Ferienreisen schwelgen. Vielen imponiert, dass sich die Fenster, anders als bei den modernen DB-Zuggenerationen, noch öffnen lassen. Gleichzeitig können sie über eine der vier Steckdosen im Abteil auf den neu eingebauten Tischen ihre Laptops betreiben und über das Bord-WLAN mit dem »Rest der Welt« kommunizieren.

Dass Familien mit Kindern an Bord ausdrücklich erwünscht sind, zeigt der große Kinder- und Spielbereich in der Zugmitte, dem gleich mehrere Abteile weichen mussten. Hier können sich Eltern ruhig zurücklehnen, während der Nachwuchs auf dem Teppichboden mit einer Holzeisenbahn erste Erfahrungen im Schienenverkehr sammelt. Dass bei den Durchsagen eines Zugbegleiters neben den »verehrten Fahrgästen« auch die »lieben Kinder« direkt angesprochen werden, ist sicher kein Zufall und bringt bei den jungen Familien Pluspunkte.

Schon auf den ersten Blick springt »LOC 1818« in deutschen Bahnhöfen als ein bunt zusammengewürfelter Exot ins Auge. Die graue Lokomotive und frisch lackierte Waggons in leuchtendem Orange scheinen farblich nicht aufeinander abgestimmt zu sein. Hinzu kommen blau-gelbe Wagen mit dem Emblem der Niederländischen Eisenbahn, die ursprünglich für Interregiozüge der 1990er Jahre konzipiert wurden und jetzt für den Locomore fahren.

Allzu normal und alltäglich sind für deutsche Bahnreisende auch Schilder, die auf eine defekte Tür oder Toilette hinweisen. Ebenso frühzeitige Hinweise an den elektronischen Anzeigetafeln in den Bahnhöfen, die die Reisenden auf eine geänderte Wagenreihung gefasst machen und bei hohem Fahrgastaufkommen für besondere Hektik an den Bahnsteigen sorgen. Aber die meisten Fahrgäste nehmen dies angesichts günstiger Fahrpreise ohne Murren hin. Sie wissen wohl auch, dass aller Anfang schwer ist, und wollen dem kleinen Start-up-Unternehmen aus der Hauptstadt eine Chance geben.

Der Ideengeber für den neuen Fernzug, Locomore-Chef Derek Ladewig, ist im beinharten Eisenbahngeschäft kein Neuling. Er hatte das Unternehmen bereits 2007 gegründet und war mit dabei, als der private Fernzugbetreiber Hamburg-Köln-Express (HKX) mit großen Erwartungen aufs Gleis gesetzt wurde. HKX wollte als junger Herausforderer der Deutschen Bahn Marktanteile im Fernverkehr abjagen. Heute ist die Tochterfirma der privaten US-amerikanischen Güterbahn RDC nur noch ein Schatten ihrer selbst - die meisten Zugverbindungen zwischen Rhein und Elbe wurden längst wieder eingestellt. Von den einst verkündeten ehrgeizigen Plänen regelmäßiger durchgehender Verbindungen zwischen Köln und Westerland (Sylt) kann keine Rede mehr sein. Ladewig, einige seiner Mitstreiter und Locomore als Minderheitseigner trennten sich 2012 nach Differenzen mit der Muttergesellschaft von HKX und nahmen Kurs auf eine neue Fernbahn, den seit dem Fahrplanwechsel Mitte Dezember einmal täglich zwischen Stuttgart und Berlin hin- und herfahrenden Zug.

Dabei scheinen sie Lehren aus dem HKX-Abenteuer gezogen zu haben. So begaben sie sich beim Anlauf für Locomore nicht unter die Fittiche eines großen Konzerns oder einer europäischen Staatsbahn. Für ihr neues Projekt sammelten sie per Crowdfunding viele kleinere finanzielle Einlagen und zwar ohne das großspurige Versprechen hoher Renditen. Geldgeber, die sich für ein »Nachrangdarlehen« von mindestens 1500 Euro entscheiden, können zwischen einer Verzinsung und einem Fahrtguthaben entscheiden. Diese Finanzierungsform könne aber auch »zum vollständigen Verlust des gesamten eingesetzten Vermögens führen«, werden potenzielle Investoren auf der Webseite locomore.com gewarnt. »Sie sollten also nicht den ganzen Sparstrumpf leeren, sondern Geld einsetzen, dessen Verlust Sie im Zweifelsfall verschmerzen können.«

Einen Schuss Ehrlichkeit mutet Locomore den Gönnern auch im Hinblick auf eine mögliche Expansion zu. Zusätzliche tägliche Verbindungen nach München, Köln und Bonn seien nur realisierbar, wenn sich der zwischen Stuttgart und Berlin pendelnde Zug wirtschaftlich trägt und langfristig immer zu 50 Prozent ausgelastet ist, so die hohe Messlatte für den Erfolg des Projekts.

Der Ansturm in der vorweihnachtlichen Reisezeit und auch in den Tagen »zwischen den Jahren« scheint zumindest diesen Erwartungen entgegenzukommen. So waren die Züge dem Vernehmen nach bereits mehrfach im voraus voll ausgebucht. An Silvester waren zumindest zwischen Kassel und Berlin alle Sitzplätze per Reservierung vergeben.

Das Locomore-Team dürfte sich ganz bewusst für die Route zwischen Stuttgart und Berlin entschieden haben. An der Strecke liegen wichtige Metropolen wie Frankfurt am Main und Hannover, aber auch Universitätsstädte wie Heidelberg, Darmstadt und Göttingen sowie Knotenpunkte wie Fulda oder Kassel. Der Zug benutzt überwiegend Hochgeschwindigkeitstrassen und ist deshalb bis zu 200 Stundenkilometer schnell. Der Halt am Frankfurter Südbahnhof und eine Umwegschleife durch westliche Vororte Hannovers sorgen dafür, dass auf der Strecke kein zeitlich und vor allem finanziell aufwendiger Fahrtrichtungs- und Lokwechsel nötig wird. In Berlin gibt es gleich vier Haltepunkte: Haupt- und Ostbahnhof zählen genauso dazu wie der Bahnhof Zoo. Endstation ist der Bahnhof Lichtenberg, den der Gegenzug am Nachmittag schon nach einer knappen Stunde wieder in Richtung Stuttgart verlässt. Damit sind zwei Berliner Bahnhöfe (wieder) an das Fernverkehrsnetz angebunden, die zu DDR-Zeiten in der geteilten Stadt jeweils als Hauptbahnhof fungierten, in den letzten Jahren aber abgehängt und »degradiert« wurden.

Zum auf Kostensenkung orientierten Locomore-Betriebskonzept gehört übrigens auch die Inanspruchnahme externer Firmen. So stellt der schwedische Güterzugbetreiber Hectorrail die leistungsstarke Elektrolok samt Lokführer; Haupteigentümer des Unternehmens ist die norwegische Reedereifamilie Høegh. Die Reisezugwagen hat Locomore von der im bayerischen Gundremmingen angesiedelten Beteiligungsfirma SRI Rail Invest angemietet. Die Modernisierungsarbeiten an den Wagen besorgte eine Werkstatt im rumänischen Bukarest. Wartungs- und Rangierarbeiten am Bahnhof Lichtenberg übernimmt die Berliner Talgo Deutschland GmbH, die seit der Einstellung des Linienverkehrs mit den gleichnamigen spanischstämmigen Nachtzügen neue Auftraggeber in der Eisenbahnbranche gefunden hat. Für die Benutzung von Bahninfrastruktur und Bahnstrom entrichtet Locomore Gebühren an die Deutsche Bahn.

Der erste oberflächliche Eindruck eines Patchworkzuges täuscht also nicht. Ein derartiges Geflecht von beteiligten Unternehmen erinnert an Zustände in Großbritannien, dem Mutterland der Liberalisierung und Privatisierung des Eisenbahnverkehrs. Alle beteiligten Firmen wollen natürlich auf ihre Kosten kommen und Überschüsse erwirtschaften. Wie reibungslos die Kooperation und die Kommunikation funktionieren, wird sich in der Praxis der kommenden Wochen und Monate erweisen.

Bis auf weiteres jedenfalls werden sich die loyalen Locomore-Kunden in Geduld üben und Widrigkeiten wie den zeitweiligen Ausfall des WLAN-Systems um die Weihnachtstage oder die Überbuchung einzelner Sitzplätze durch die Buchungs-IT verkraften müssen. »Weil sich auch die Instandhaltungs-, Rangier- und Zugversorgungsprozesse noch stabil einspielen müssen, sind an einigen der nächsten Tage einzelne Wagen nicht im Zug und wir verkehren mit unregelmäßiger Wagenreihung und zum Teil mit bis zu zwei Ersatzwagen«, so eine aktuelle Mitteilung an die Kunden auf der Internetseite des Unternehmens.

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