Gehirnjogging für den Torwart
Christoph Ruf über Synapsenverbindungen in Kickerhirnen, Fußballdebatten und Kellnerbefragungen
Sonntag Morgen, die Brötchen sind frisch, das Radioprogramm nicht: »Heal the world« von Michael Jackson tropft plärrend aus der Box, und ehe das Espresso-Doping Wirkung zeigt und ein fulminanter Sprint zum Ausschaltknopf dem Jaulen ein Ende bereitet, sind quälende Sekunden vergangen.
Mit dem Schmerz und all dem musikalischen Schmalz hat sich allerdings ein Gedanke durch den Gehörgang ins Ohr gefräst, der irgendwie haften bleibt: »Die Welt heilen« soll man also. Nur: Welche Welt ist es, von der der Künstler da greint? Die der Börsenschwankungen, »Cum-Ex-Deals« und »Erfordernisse der Märkte«? Also eine, die so komplex erscheint, dass kaum noch einer versteht, worum es wirklich geht bei dem, was angeblich Politik sein soll? Oder die, in der Menschen, die man je nach Laune und Alkoholpegel bemitleiden oder verachten muss, Fischabfälle fressen und sich zum Gaudium von Gaffern, die man definitiv verachten muss, jeder Würde berauben lassen? Es mag die gleiche Welt sein, doch es sind unterschiedliche Universen. Oder ist es eher so, dass das Bedürfnis nach den einfachen Dingen steigt, wenn um einen herum alles immer komplizierter wird?
Womit wir beim Fußball wären, wo es diese beiden Welten ebenfalls zu beobachten gibt. Ein Trainerstab besteht heute in der ersten Liga nicht selten aus bis zu zehn Personen, Von der Ernährung über die Taktik bis zu den kleinsten Verästelungen der Fitnesswerte wird nichts dem Zufall überlassen. Und selbst Oberligatrainer schwören auf Trainingsmethoden der »Life Kinetik«, auch »Gehirnjogging« genannt. Ausgehend von der Erkenntnis, dass das Hirn aus acht getrennten Bereichen besteht, ist das Ziel, durch mehr Synapsenverbindungen zum Beispiel den kreativen Teil des Bregen mit dem motorischen zu verbinden. Ein Torwart, der eine 40-Meter-Flanke herunterpflücken soll, wird im Training also beim Absprung zusätzlich mit einer Frage bombardiert: »Hauptstadt von Frankreich?« Kurz nachdem er »Paris« gesagt hat, muss der Ball zwischen seinen Händen ruhen. Dass einem in der Bundesliga zumindest ein Torwart einfallen würde, der mit der Antwort noch ein paar Tage länger bräuchte, tut jetzt nichts zur Sache.
Jedenfalls hat Profitraining mit dem im vergangenen Jahrtausend höchstens noch insofern etwas zu tun, als der Ball nach wie vor nicht eckig ist. Ein Darmstädter, der gegen Ingolstadt spielt, weiß alles über seinen Gegner, weil er ihn in Videovorbereitungen und Einzelgesprächen vom jeweiligen Fachmann im Trainerteam persönlich vorgestellt bekommen hat.
Und wer schon den Versuch unternommen hat, einen Bundesligatrainer in den 48 Stunden vor einem Spiel anzusprechen, weiß, welche Auswirkungen die Suche nach Perfektionismus auf einen Menschen haben kann.
Ganz anders Volkes Stimme, deren Wohlklang man beim Fußball natürlich selbst dann nicht missen möchte, wenn sie so meterweise an der Partitur vorbeisingt, wie sie das oft tut. Nach Niederlagen hört man nach wie vor hundertfach den schönen Satz, wonach man »denen« echt mal »in den Arsch treten müsste« (womöglich sogar ohne zeitgleich landeskundliche Fragen zu stellen). Da wird »Gras gefressen« und »aufs Klo mitgegangen«, dass es eine wahre Freude ist. Und ob ein Trainer seinen Job gut macht oder nicht, bemisst sich daran, ob er mit verschränkten Armen an der Seitenlinie steht oder Befehle auf den Platz brüllt, die außer ihm in einem 60 000-Mann-Stadion sowieso keiner versteht.
Doch der Fan auf der Tribüne ist da in guter Gesellschaft. Denn die stetig wachsende Schar der Sportjournalisten macht es oft nicht anders als die Zuschauer. Da werden in der 60. Minute Spielernoten in Redaktionen telefoniert, die nach so schlüssigen Kriterien zusammengestellt werden wie : »Scheiße gespielt, aber Tor geschossen, also 2,5«, da werden Einzelkritiken verfasst, in denen dem Sechser angekreidet wird, er habe »zu wenig für die Offensive getan«. Ohne zu wissen, ob nicht genau das der Job war, den ihm der Trainer zugewiesen hat. Und da wird manchmal genauso herzhaft rumproletet wie in der Fankurve.
Aber eigentlich ist das alles ja genau richtig so, denn Fußballdebatten im Freundeskreis, die sich um Laktatwerte und Regenerationsphasen drehen, können wohl nur Menschen ertragen, die dem Kellner erst zehn Fragen stellen, bevor sie ein Gericht von der Speisekarte bestellen.
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