Kultur und Käse

Zyperns Süden hat eine Kulturhauptstadt, der Norden hätte auch eine verdient

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 6 Min.

Toren bereisen in fremden Ländern die Museen, Weise gehen in die Tavernen«, spöttelte einst der eloquente Erich Kästner. Dümmer macht aber wohl das eine wie das andere nicht. Erhellendes übers aktuelle einheimische Gefühls- und Stimmungsbarometer erfährt der Reporter in fremden Ländern aber ebenso gut in Taxis, Frisiersalons oder in Theaterpausen. Weniger im Politikteil der Zeitungen, dafür mitunter in Buchhandlungen. Und zwar in solchen, die auch Leseecken und Kaffee anbieten - zum Beispiel das Streetart Kitap-Kafé in der Kurtulugstraße von Girne.

Girne ist eine zypriotische Hafenstadt. Aber was heißt hier »eine«? Oft hört und liest man, dass es einfach die schönste der ganzen Insel sei. Das meinen auch Burak Kasap und Kemal Yasin, beide pensioniert und um die 60, die in besagter Buchhandlung ab und an Zeitung lesen und Kaffee trinken. »Nirgendwo auf Zypern gibt es eine so imposante Festung am Hafen wie unsere«, betont der eine. »Und nur bei uns gibt es die Beylerbeyi-Abtei, bei der Lawrence Durrell in den 50er Jahren lebte und seinen Zypernroman ›Bittere Limonen‹ schrieb«, ergänzt der andere. Deshalb sei es »ungerecht, dass, wo nun schon mal Zypern an der Reihe war, nicht wir Europas Kulturhauptstadt 2017 geworden sind, sondern die Wahl auf Pafos fiel«, meint Kemal Yasin. Und Burak Kasap ergänzt: »Pafos und Girne gemeinsam, das wäre eine gute Geste der EU gewesen.«

In der Tat stehen Girne und Pafos auf Zypern kulturhistorisch wie kulturellaktuell zumindest irgendwie auf Augenhöhe. Nicht nur wegen besagter Festung, an der sich über Jahrhunderte Byzantiner, Franken und Venezianer abarbeiteten. Nicht nur wegen besagter gotischer Klosterruine, in deren Nähe einst der Beinahe-Literaturnobelpreisträger Lawrence Durrell (1912-1990) hauste, dessen »Bittere Limonen« für Zypern etwa das sind, was »Alexis Sorbas« von Nikos Kazantzakis für Kreta ist. Da ist zudem das fantastische Ikonenmuseum in der dem Erzengel Michael geweihten Kathedrale, die nahe jungsteinzeitliche Siedlung direkt am Meer oder nur wenig weiter das Mausoleum von Hazreti Ömer (581-644), diese jahrhundertealte, esoterische Ruhe verströmende muslimische Pilgerstätte. Und nicht zuletzt ist da die kleine dynamische Hafenstadt selbst, deren Einwohnerzahl sich seit 1980 von rund 5000 bis heute verfünffacht hat, mit kleiner, feiner Universität und buntem Treiben um die Hafenpromenade zu allen Zeiten. Was letzteres betrifft, dürfte Lotti Huber (1912-1998), eine proto-punkige Entertainerin, die dort in den 50er Jahren die Octopus-Bar führte, noch in bundesdeutscher Erinnerung sein. Und all das stelle man sich nun noch vor, geografisch, mal direkt, mal weiträumiger, umrahmt vom levantinischen Teil des Mittelmeers und dem bis über 1000 Meter aufragenden Girne-Gebirge mit dessen Fünffingerberg (Besparnak/ Pentadaktylos).

Doch selbst wenn von Girne aus ein neues Kulturphänomen bereits die ganze Welt in Bann gehalten hätte - die Chance, als Europas Kulturhauptstadt 2017 benannt zu werden, war von vornherein so gut wie null. Deshalb steckt hinter den Lesecaféhaus-Grummeleien von Girne mehr als nur Lokalpatriotismus. Die dortige polemische Sichtweise auf die Kulturhauptstadtrealität ist nämlich unterlagert von allen Problemschichten, die mit der Zypernfrage zusammenhängen. Es handelt sich um einen Konflikt spätestens aus dem tiefen 19. Jahrhundert, der durch zweierlei gekennzeichnet ist: zum einen durch die nun bereits seit 1974 andauernde griechisch-türkische Teilung der Insel, zum anderen durch fast ebenso lange laufende Gespräche über eine mögliche Wiedervereinigung, die mal lange ruhen oder mal, wie derzeit gerade, hoffnungsvoll aufflackern.

Was nun in diesem Zusammenhang unser Lesecafé-Gesprächsthema Europas Kulturhauptstadt 2017 angeht: Girne (griech. Kyrenia), diese wunderschöne Hafenstadt, liegt in Nordzypern, also im türkischen Teil. Pafos (türk. Gazibaf), die andere wunderschöne Hafenstadt, liegt indes im südlichen, also im griechischen Teil Zyperns. Kulturhauptstadt Europas konnte die erste aus ganz formalen Gründen nicht werden, weil die Türkische Republik Nordzypern von keinem EU-Land und - außer von der Türkei - auch von keinem Land der Welt völkerrechtlich anerkannt ist. Allerdings ist nun wiederum die Republik Zypern seit 2004 EU-Mitglied. Und diese Republik Zypern beinhaltet ebenso formal die ganze Insel, also inklusive ihres türkisch besetzten Nordteils.

Dies ist nur eine von vielen rechtlichen und diplomatischen Volten in der Zypernfrage, die der deutschen nach 1949 (Stichwort Alleinvertretungsanspruch) nicht völlig unähnlich ist. Nordzypern leidet, und das ist selbstredend mit der antitürkischen Blockade bezweckt, mehr schlecht als recht. Um nur ein Problem im Tourismus anzudeuten: Leute, die von irgendwo zum Airport Ercan in Nordzypern fliegen wollen, können das prinzipiell nur mit Zwischenlandung auf einem türkischen Flughafen tun. Selbst alle Post- und Telefonverbindungen müssen wegen des Embargos diesen Umweg nehmen.

Wir machen uns auf eine gemächliche Autotour von Girne/Kyrenia im Norden in die tatsächliche zypriotische Kulturhauptstadt 2017 Pafos/Gazibaf im Süden. Eine Fahrt quer über die Insel, die fast alle Sinneserwartungen erfüllt: in der schroffen Bergwelt des Girnegebirges und in der geteilten, bikulturellen Hauptstadt Lefkosia/Lefkosa, im weiten, üppigen Troodosgebirge und später entlang der Südküste, an der Aphrodite dem Meer entstiegen sein soll, schließlich nach Pafos.

Mitgenommen auf die Reise haben wir das Gedankenspiel der beiden älteren Herren aus dem Streetart Kitap-Kafé in Girne. In Pafos geben wir es an Vasilija Ellinas weiter, eine der vielen Europastadt-Kuratorinnen: »Wäre es nicht eine echte Geste durch die EU gewesen, Girne und Pafos für 2017 gemeinsam den Titel Kulturhauptstadt anzutragen?« Zuerst ist sie etwas irritiert. »Wäre denn das überhaupt gegangen?«, fragt sie, mit Hinweis auf den bekannten Status, etwas verblüfft uns und wohl auch sich selbst. »Warum aber eigentlich nicht? Vor allem hätte das vielleicht die bleierne Atmosphäre etwas aufgelockert«, reagiert sie aufgeschlossen.

Dass solche Gesten jenseits von scheinbar unauflöslichen Beschlusslagen und Gegensätzen durchaus möglich sind, zeigten übrigens unlängst die zypriotischen Käseproduzenten aus Nord und Süd. Gemeinsam wollen sie Halloumi (griechisch) und den produktgleichen Hellim (türkisch) für die Vermarktung schützen lassen. Kein geringerer als EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker kommentierte das mit den Worten: »Das zeigt den Willen auf Zypern, gemeinsam an Projekten zu arbeiten, die die gesamte Insel vereinen.« Demgemäß hätte die EU bei der Vergabe des Titels Kulturhauptstadt 2017 auch von sich aus einen demonstrativen Impuls setzten können. Schade, dass die Chance vertan worden ist.

Infos

Zyperntourismus: www.fremdenverkehrsamt.com/touristeninformation/ zypern

Nordzyperntourismus: www.nordzypern-touristik.de

nd-Leserreisen: Tel.: (030) 2978-1620, www.nd-leserreisen.de

Literatur: Ralph Raymond Braun: Reiseführer Zypern, Michael Müller Verlag, 440 S., 2016

Andreas Salewski: Pafos - Europäische Kulturhauptstadt, Achter Verlag, 182 S., 2017

David Abulafia: Das Mittelmeer - Eine Biografie, S. Fischer Verlag, 960 S., 2013

Lawrence Durrell: Bittere Limonen - erlebtes Zypern, Roman, Rowohlt, 216 S., 1967

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