Potenzial einer Katastrophe
Deutsche Behörden stehen dem Import der Konflikte aus der Türkei hilflos gegenüber
Türkische Fahnenmeere in Deutschland signalisieren immer wieder, welches nationalistische Potenzial die Türkei hier wachrufen kann. Zum ersten Mal 2008, als Recep Tayyip Erdogan, damals noch Ministerpräsident, eine Wahlkampfrede vor 16 000 Türken in Köln hielt. Wahlkampf der Regierungspartei AKP in Deutschland kitzelte am Nationalgefühl der Türken und überdies an latenten Spannungen. Erdogan hielt die Gelegenheit für passend, die deutsche Integrationspolitik zu kritisieren. Erst als im letzten Jahr nach dem Putschversuch in der Türkei die Ereignisse aus dem Ruder zu laufen drohten, untersagten die Behörden den Auftritt Erdogans (per Großleinwand) am Rheinufer, zur Großkundgebung in Köln kamen knapp 40 000 Türken.
Für die deutsche Innenpolitik schlummert hier das Potenzial zur Katastrophe. Zu den von Erdogan zu Staatsfeinden erklärten Gegnern zählen inzwischen neben der auch in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK und sogenannten PKK-nahen Organisationen mittlerweile auch die Anhänger der Gülen-Bewegung. Das Asylgesuch von 40 türkischen NATO-Offizieren ist nur aktuellster Ausläufer des Konflikts, und das Verhältnis zwischen den politischen Gegnern unter den türkischen Migranten in Deutschland bleibt davon nicht unberührt.
Schon weil der Import der türkischen Auseinandersetzungen in Gestalt ihrer Opfer steigt. Eine Anfrage der LINKEN im Bundestag ergab: Wurden im Januar 2016 noch 119 Asylanträge gezählt, steigerte sich ihre Zahl von Monat zu Monat; im November waren es über 700. Insgesamt knapp 5200 Asylanträge wurden registriert - keine immense Zahl, aber ein Fingerzeig auf ein wachsendes Problem. Fast 80 Prozent der Anträge stammten von Kurden. Eine Chance auf Anerkennung haben die wenigsten. Im gleichen Zeitraum erhielten 90 Kurden Asyl.
Die deutschen Behörden verfolgen PKK-Verdächtige ebenso, wie sie Klagen wegen angeblicher Beleidigung des Staatspräsidenten Erdogan nachgehen. Doch so kritisch dies etwa unter Kurden gesehen wird, so wenig ist Ankara damit zufrieden. Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu verlangte - bisher ergebnislos - die Auslieferung türkischer Richter und Staatsanwälte, die dem islamischen Prediger Fethullah Gülen nahestehen sollen. Auch ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger forderte Ankara und warf Deutschland gar vor, deren Anhänger zu schützen. Ankara regiere direkt in die deutsche Innenpolitik hinein, lautet der Vorwurf, den etwa die LINKE-Politikerin Sevim Dagdelen erhebt. Empört zeigte sich im letzten Jahr der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) über ein Schreiben des türkische Generalkonsulats in Stuttgart, in dem dieses die Landesregierung aufforderte, Vereine, Einrichtungen und Schulen auf den Einfluss der Gülen-Bewegung hin zu überprüfen.
Kürzlich sorgte die Denunziation von Erdogan-Kritikern durch den Verein DITIB für Schlagzeilen. Dagdelen spricht von einem »Erdogan-Netzwerk« in Deutschland und fordert, »die Agenten Erdogans aus Deutschland unverzüglich auszuweisen«. Sie berichtet, ihre Buchlesungen und Veranstaltungen würden von Nationalisten gestört, es komme zu nationalistischen Manifestationen, nur unter Polizeischutz könnten Veranstaltungen stattfinden. Seit der Bundestag die Massaker an den Armeniern in der Türkei zu Beginn des letzten Jahrhunderts als Völkermord einstufte, mussten Abgeordnete wie Dagdelen unter Personenschutz gestellt werden. Von einem Klima der Angst unter Erdogan-Kritikern war im ZDF-Magazin »Frontal 21« die Rede. »Wir werden dich vor deinem Haus begraben«, drohten Unbekannte demnach einem Bremer, der einem PKK-nahen Verein vorstehe, per SMS.
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