Wie Rübezahl auf den Dreh kam
Leierkastenmann Horst Bölsdorf versteht sich als Bewahrer eines Altberliner Kulturguts
Die typisch Berliner Tradition brachten Italiener nach Spree-Athen. Weltberühmt waren die Drehorgeln der Bacigalupos aus Berlin. Sie sind heute begehrte Sammlerstücke.
Alles begann mit Giovanni Battista Bacigalupo, 1847 in Modena in der Emilia-Romagna geboren. Mit knapp zehn Jahren verließ er seine Heimat, um in Paris bei seinem Landsmann Ludovico Gavioli das Orgelbauen zu erlernen und hernach seine Fertigkeiten in London bei Giuseppe Chiappa, ebenfalls ein Italiener und Schüler von Gavioli, zu verfeinern. 1867 kam Bacigalupo nach Deutschland, baute zunächst in Hamburg Drehorgeln. Zwei Jahre nach der Reichseinigung durch Otto von Bismarck verschlug es ihn in die deutsche Hauptstadt. Er gründete mit dem Orgelbauer Giuseppe Cocchi und dem Gastwirt Antonio Graffigna eine Firma. Das Triumvirat hielt nur einige Jahre. Giovanni Battista Bacigalupo rief ein eigenes Unternehmen ins Leben und siedelte sich in der Schönhauser Allee an. Seine Söhne führten das Geschäft weiter, bis sie sich entzweiten und - nur fünf Hausnummern voneinander getrennt - in ihren Läden miteinander konkurrierten. Was postalische Ermahnungen nötig machte: «Ersuche, genau auf die Hausnummer zu achten!»
Auch in der Kopenhagener Straße sowie in der Pappelallee gab es Drehorgelläden, betrieben allesamt von «Migranten». In dem Karree lebte die kleine italienischen Kolonie Berlins. Die Bacigalupos hielten am längsten durch, waren in der Schönhauser bis 1975 ansässig. Dann gab es keinen mehr, das Geschäft fortzuführen. An die äußerst produktive und kreative Familie - 7000 Drehorgeln sollen sie in die ganze Welt verkauft haben - erinnert heute eine Stele am historischen Ort, vor dem nunmehrigen Arcaden-Einkaufscenter am S- und U-Bahnhof Schönhauser Allee.
Natürlich kennt Horst Bölsdorf die Geschichte der Bacigalupos. Jeden Donnerstag, um die Mittagszeit, steht er vor der Stele mit seinem «Leierkasten». Seit 13 Jahren dreht er die Orgel, jeden Tag in einem anderen Stadtbezirk: dienstags in Steglitz, mittwochs in Spandau, donnerstags im Prenzlauer Berg, freitags in Köpenick. «Und montags?», möchte ich von meiner Zufallsbekanntschaft wissen. «Da wird gerudert.» Bölsdorf ist nicht nur Mitglied der Internationalen Drehorgelfreunde Berlin, sondern auch eines Ruderclubs in Oberspree. «Im vorigen Jahr habe ich 4334 Kilometer geschafft, in diesem Jahr schon 450», sagt der zweimalige Äquatorpreisträger stolz.
Geboren 1943 in Berlin, wuchs er fernab der Hauptstadt auf. Notgedrungen. Wegen Hitlers verfluchten Krieges. «Als die Bomben einschlugen, ist Muttern mit mir raus auf’s Land gezogen. Ich bin erst 1975 wieder zurück. Vorher habe ich mich überall rumjetrieben.» Was heißt «rumgetrieben»? Bereitwillig gibt Bölsdorf Auskunft: In Köthen, wo der Barockmusiker und Orgelkomponist Johann Sebastian Bach von 1717 bis 1723 als Hofkapellmeister des Fürsten Leopold von Anhalt angestellt war, beendete Bölsdorf die Grundschule. Er machte an der Volkshochschule sein Abitur und studierte in Karl-Marx-Stadt und Magdeburg Elektrotechnik. Sein weiterer Weg führte nach Rathenow, «wo ich in Dunckers Brillenbude arbeitete».
Dort wurden nicht nur Brillen, sondern auch Mikroskope, Fernrohre und allerlei feinoptische Geräte hergestellt. «Pfarrer Johann Heinrich August Duncker hat 1901 die Industrie in Rathenow eingeführt, als es dort keine Arbeit und viele Arbeitslose gab. Er hat sich um seine Schäfchen gekümmert», betont Bölsdorf. Die Produktionsgenossenschaft wurde 1972 verstaatlicht und trug fortan nur noch den Nachnamen «Duncker». Die Assoziation zum Gewerkschaftsfunktionär und Kommunisten Hermann Duncker war gewollt. «Ein Pfarrer konnte ja nicht Namenspatron eines VEB sein», erklärt Bölsdorf. Das Duncker-Werk war dem Kombinat Carl Zeiss Jena angeschlossen. Nach 1990 von der Treuhand verscherbelt, fand sich die Mehrheit der Rathenower Mitarbeiter auf der Straße wieder.
Da lebte und arbeitete Bölsdorf allerdings bereits in Berlin. Zunächst war er beim Wohnungsbau tätig. 1980 machte er sich als Elektroinstallateur selbstständig. «Dann kam die Wende und alles ein bisschen janz anders. Leider wussten Westberliner, wie man auf Handwerkerkosten Häuser bauen kann. Selbst der Senat hat nicht immer pünktlich jezahlt, so dass ich dann am Hamburger Bahnhof, beim Museum für Zeitgenössische Kunst, kaputtjejangen bin.» Fortan bildete er Lehrlinge aus, erhielt jedoch einen Arbeitsvertrag stets nur für ein Jahr oder anderthalb Jahre. Zwischendurch Hartz IV. «Da fällt dann die Rente entsprechend aus», stellt der 74-Jährige nüchtern fest.
Kam er dadurch auf den Dreh mit der Drehorgel? «Nee, das bringt nicht viel ein. Und darum geht es auch nicht.» Bölsdorf hat sich schlicht in die Drehorgelei vernarrt. Und hat Freude daran, Freude zu bereiten. Nicht nur Kinder bleiben verzückt vor seinem «Leierkasten» stehen. Zwei Äffchen sind seine ständigen Begleiter. Aus Plüsch, versteht sich. Keine lebendigen. «Die gibt es seit Jahrzehnten nicht mehr», so Bölsdorf. Lustig waren sie - die kleinen, behaarten Gesellen in ihren bunten Kostümchen, die einst allerlei Kunststücke aufführten, mit der Peitsche geknallt oder Purzelbäume geschlagen haben und die Münzen aufsammelten, die aus den Fenstern der Mietskasernen aufs Straßenpflaster geworfen wurden. Als Dank für das Spektakel und die Musik, die tristen Alltag belebten. Gespielt wurden u.a. Stücke aus Opern und Operetten. Kultur für das Volk, das sich Theater und Konzerte nicht leisten konnte.
Das Repertoire von Bölsdorf reicht von Musicals bis zu Moritaten, von alten Gassenhauern bis zu frechen Couplets. Ich erfahre außerdem: Drehorgel ist nicht gleich Drehorgel. Da gibt es den kleineren «Leierkasten» mit zwanzig Pfeifen und die große Jahrmarktsorgel mit Hunderten von Pfeifen und mehreren Registern. Die Bacigalupos waren in allem firm. In ihrer Firma arbeiteten zeitweise 50 Handwerker und Künstler: Tischler, Drechsler, Schlosser, Gürtler, Bildermaler, Pfeifenmacher, Walzenarrangeure etc. Eine Drehorgel ist zwar «nur» ein mechanischer Apparat, aber sehr aufwendig in der Fertigung und kompliziert-raffiniert inwändig.
Bölsdorf, der wegen seiner stattlichen Figur und seines Bartes - «und weil es im Verein bereits einen Horst gab» - von seinen Ruderfreunden «Rübezahl» genannt wird, kommt aus einer Musikerfamilie. Der Großvater war Erster Trompeter am Stadttheater in Köthen. «Mein Vater blies das Horn und die Trompete und spielte Klavier. Sein Sohn - also ich - wollte auch gerne Klavier spielen lernen. Ging aber nicht», bedauert Bölsdorf noch heute. Er spielte jedoch während seines Studiums in Karl-Marx-Stadt im Blasorchester der Technischen Hochschule. Was für ein Instrument? «Scheißhaken.» Auf meine erschreckt-verwunderte Nachfrage entschlüsselt mir Bölsdorf Bläserlatein. «Das nennt sich eigentlich Euphonium und gehört zur Familie der Hörner. Da Althorn schneller zu erlernen ist als ein Waldhorn, bin ich damit eingestiegen.» Ging das so einfach? «Ja. Ich schaute eines Tages bei einer Probe des Hochschulorchesters vorbei. Der Leiter besah sich meine Lippen: ›Okay, der könnte blasen.‹ Dann gab er mir ’ne Trompete in die Hand. Ich setzte an, hab’ ein paar Töne rausbekommen, ein paar richt’je. Nicht nur reingepustet. ›Oh, der kann ja was!‹ Ich sagte: ›Ich bin mit Blasmusik aufgewachsen. Großvater und Vater spielten die Trompete.» Damit war das Eis gebrochen.«
Bölsdorfs »Leierkasten« ist ein Fabrikat von Meisterhand - von Axel Stüber. »Er hat vor 40 Jahren angefangen, Drehorgeln zu bauen, als der letzte Bacigalupo gestorben ist.« Stübers Drehorgeln sind sogar im Fernen Osten gefragt. Und alle sind sie liebevoll handgefertigt. Wie zu Zeiten von »Pinsel-Heinrich« (Zille), als Berlin noch über 3000 Drehorgelspieler zählte. »Heute gibt es etwa 50 aktive, organisierte und vielleicht 20 freie«, schätzt Bölsdorf. Und fügt hinzu: »Seit einem Jahr habe ich eine zweite Drehorgel, eine 31er Doppio, natürlich auch mit Intarsien. Mit ihr kann ich mehr klassische Stücke spielen, sie hat einen höheren Tonumfang. Ich spiele sie nur selten auf der Straße.« Mit ihr wird er aber beim Drehorgeltreffen an der Gedächtniskirche Anfang Juli antreten, zu der auch Gäste aus Übersee erwartet werden. »Das organisiert alles unsere Jubel-Jette, mit bürgerlichen Namen Christa Hohnhäuser.«
Ob Leierkasten oder Drehorgel - für manche eine Glaubensfrage - ist für Bölsdorf kein Streitpunkt. Er nennt sich selbstbewusst Leierkastenmann. Sieht sich der freundliche Herr »Rübezahl« als Wahrer einer Tradition, eines Kulturgutes gar? »Na klar, deswejen steh’ ick ja hier. Bei Wind und Wetter, das janze Jahr.«
Horst Bölsdorf ist für diverse Events zu buchen unter: 030/654 15 39 oder Mobil: 0152 0400 29 37 sowie E-Mail: info@altberliner-leierkastenmann.de
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