Werbung

Ein Nein nährt Hoffnung in der Türkei

Martina Michels hat wenige Wochen vor dem Referendum über das Präsidialsystem das Land im Ausnahmezustand besucht

  • Lesedauer: 3 Min.

Ein halbes Jahr ist seit dem gescheiterten Putsch in der Türkei vergangen. Die Regierung hat Massenentlassungen im öffentlichen Dienst, von Akademikerinnen und Wissenschaftlern angeordnet, Redaktionsstuben, Frauen- und Kulturvereine geschlossen und selbst kurdisches Kinderfernsehen verboten. Wer dieser Tage in das Land reist, merkt rasch, dass die Repressionen gegen die politische Opposition unvermindert anhalten. Auch in der vergangenen Woche, als ich zusammen mit Bernd Riexinger, Ko-Vorsitzender der LINKEN, und Andrej Hunko, Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Europarat, Istanbul besuchte, bekamen wir das Vorgehen insbesondere gegen die HDP unmittelbar mit. In der Nacht zum 9. Februar wurden 58 HDP-Mitglieder in der Stadt festgenommen, 100 landesweit. Es traf Kreisvorsitzende und junge Leute.

9500 Mitglieder der HDP sitzen nun schon im Gefängnis, darunter die beiden Ko-Vorsitzenden, die wir gern besucht hätten. Doch die Erlaubnis wurde verweigert. Inzwischen wird offen zugegeben, dass HDP-Mitglieder außer von engsten Angehörigen keine Besuche empfangen dürfen und dies gilt exklusiv für sie. So sprachen wir mit ihren Anwälten, die uns weiteres Unglaubliches berichteten. Die Anklageschriften, eine Farce. Hauptinhalt: Redezitate. Straftatbestände: Fehlanzeige. Zu den Festnahmen im November kam die Polizei ohne Haftbefehl. Zwölf Provinz- und Bezirksbüros wurden im letzten halben Jahr niedergebrannt, Dokumente vernichtet. Diese Serie war erst beendet, als dabei ein Polizist erwischt wurde. Parteikongresse könnten vor allem auch wegen der vernichteten Unterlagen derzeit gar nicht organisiert werden.

Bei der Parlamentswahl am 7. Juni 2015 hatte die HDP Recep Tayyip Erdoğans AKP die absolute Mehrheit vermasselt. Dieser Erfolg konnte, trotz der militärischen Auseinandersetzungen in den kurdischen Städten im November 2015, wiederholt werden. Die Konflikte zwischen radikalen PKK-Gruppen und den türkischen Sicherheitskräften wurden auf dem Rücken der Bevölkerung und der friedlichen politischen Opposition ausgetragen.

Unsere GesprächspartnerInnen vermissten den internationalen Widerhall auf die Entwicklungen in ihrem Land. Die Maßnahmen des Europaparlaments, wie das Einfrieren der Beitrittsverhandlungen, seien zu zaghaft. Die EU-Kommission und Regierungschefs, wie Angela Merkel, würden eine andere Sprache sprechen. Sie fragten uns, was geschehen müsse, ehe der Europarat »ein Land vor die Tür setzt«. Und appellierten schließlich an uns: »Kommt öfter vorbei. Wenn ihr drei Tage hier seid, wirkt das drei Monate nach.«

Mitten in die Desillusionierung spann sich in die Gespräche zugleich ein roter Faden der Hoffnung. Denn wo gibt es schon Gewerkschaften, die sich außer um ihr Kerngeschäft auch um Obdachlose und um ehemalige inhaftierte Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes kümmern und zugleich - entgegen aller Ausnahmezustandsdekrete - noch Tarifverhandlungen durchziehen?

Protest mündet derzeit vor allem in die Nein-Kampagne zum geplanten Referendum über das von Staatschef Erdoğan angestrebte Präsidialsystem. »So wie dereinst das griechische OXI durch Europa ging, sollte der Kontinent schnell das türkische Wort für ›Nein‹ - Hayir - lernen«, forderte Ayşe Berktay aus der internationalen Abteilung der HDP bei einem Gespräch. Ihre Nein-Kampagne stehe für die Ablehnung von Demokratieabbau überall. Die CHP und die HDP finden hier leider erneut nicht zueinander. Immerhin rücken aber Gewerkschaften und Vereine offenbar zusammen. Aus der Erfahrung der Repression entwickelt sich allerhand. Akademikerinnen, denen der Pass, die Krankenversicherung und die Rentenansprüche weggenommen wurden, arbeitslose Journalisten und Ärzte, die in den Konfliktregionen die Gesundheitsversorgung aufbauen, sprechen sich öffentlich und gemeinsam für ein »Nein« aus.

Viele unserer türkischen und kurdischen MitbürgerInnen in Deutschland werden am 16. April mit abstimmen. Für ein Nein zum Demokratieabbau können aber auch wir etwas tun. Denn eine Verfassungsänderung in der Türkei, mit der Präsident Erdogan den jetzigen Ausnahmezustand zur Regel machen könnte, träfe ganz Europa. Ob die Wahlen in Frankreich oder die Bundestagswahl: Die Brüchigkeit der Freiheit, die Versenkung sozialer Fragen sind kein lokal begrenztes Problem.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.