Nächte in der Berghöhle
Haydar Karatas hat sich auf die Spuren seiner Vorfahren im türkischen Bürgerkrieg begeben
Fecire Hatun hatte ihrer kleinen Tochter ein Püppchen aus Weidenruten gebastelt, in die sie zwei kleine Äste flocht. Die Kleider bestanden aus Pflanzenteilen, das Haar aus Gräsern und der Rock aus tabakgelben Eichenblättern. Gülüzar fand ihre neue Puppe wunderhübsch und nannte sie Perperik-a Söe, Nachtfalter. Vermutlich, weil der Blätterrock ein wenig an die gezackten Flügel dieses Insekts erinnerte.
Mein hübscher Nachtfalter, so begann nun Gülüzars Mutter alle ihre Märchen, mit denen sie das kleine Mädchen in der Sprache der Zaza, einer in Ostanatolien lebenden Volksgruppe, von der grausamen Realität ablenkte, in der sie sich beide befanden. Auch in Fecires Erzählungen gab es Hunger und Tod, doch das Leben dieser beiden Frauen im Dersim war um ein Vielfaches schrecklicher als jedes noch so blutrünstige Märchen.
Der Dersim befand sich auf dem Gebiet der heutigen Provinz Tunceli in Ostanatolien. In den dreißiger Jahren war er von Kurden und Zaza besiedelt, die autonom lebten und ihren Stammesgesetzen folgten, anstatt sich der türkischen Zentralregierung zu unterwerfen. Die hatte es sich zum Ziel gesetzt, ihre Staatsgewalt auch hier durchzusetzen, inklusive der Assimilierung dieser Menschen in die türkische Kultur und der Eliminierung ihrer Traditionen. Das hieß: Ausnahmezustand, Militäraktionen, Bombardierungen ganzer Dörfer. Auf die Erhebungen einiger Stammesführer folgten unglaubliche Massaker und Gräueltaten, die sogar den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan veranlassten, von einem der dunkelsten Kapitel der türkischen Geschichte zu sprechen. Allerdings erst nahezu ein Jahrzehnt später und - gemessen an seiner heutigen Politik - offenbar ohne Lehren daraus gezogen zu haben.
Fecire verlor ihre vier ersten Kinder in diesem Krieg, die meisten Verwandten und dann auch noch Hidir Efendi, den Vater ihrer Tochter Gülüzar. Das Haus war nicht mehr sicher, die paar übrig gebliebenen Dorfbewohner waren zerstritten und feindselig. Es gab nichts zu essen, keinen Zusammenhalt mehr und keine Zuversicht. Nachts floh die Frau mit ihrem kleinen Mädchen auf dem Rücken in die Wälder. Sie lief im ausgetrockneten Bachbett eines Flusses den Berg hinauf und beide krochen in eine schirmförmig ausgewaschene Höhlung.
Gülüzar gewöhnte sich an dieses wurzelumrankte Zuhause und vermisste es, als sie in ein nicht minder unbequemes Weidengehölz umziehen mussten. Es sollten Monate und Jahre vergehen, ehe sie wieder in einem halbwegs festen Gebäude wohnen konnten. Eine Zeit voller Hunger und Kälte, in der die Frauen Erde, Wurzeln oder Eicheln essen mussten, um zu überleben, in der sich Mütter erhängten, weil sie den Todeskampf ihrer kleinen Kinder nicht länger mit ansehen konnten. Auseinandersetzungen brachen aus um eine Hand voll Getreide, dessen Besitz einem für den nächsten Sommer etwas Mehl und damit einen Happen Brot versprach. Ganz zu schweigen von einem Schaf oder einer Kuh, deren Milch mehrere Menschen ernähren konnte und um die daher ebenso erbittert gekämpft wurde.
»Meine Mutter schichtete Eichengeäst über eine Ecke unseres niedergebrannten Hauses, wir krochen in dieses Lager wie Bären in ihren Bau und verstopften das Loch mit Stroh. Unter uns war kalte Erde, ich war hungrig, der bittere Saft der Eicheln, die ich gegessen hatte, gluckerte in meinem Bauch, kam mir die Kehle hoch und wanderte mit dem gurgelnden Geräusch eines sich leerenden Schlauchs und noch bitterer als zuvor in meinen leeren Magen zurück«, beschreibt der Autor aus der Sicht der fünfjährigen Gülüzar das Elend. Ihre Mutter gab ihr verzweifelt die Brust, aus der aber nichts kam. Wie glücklich waren beide, als sie nach der ergebnislosen Jagd auf einen Hasen einen Weidenbirnenbaum mit klitzekleinen Früchten entdeckten. Diese wurden einzeln eingesammelt und hinterließen in Gülüzars Mund einen bitteren, trockenen Geschmack. Doch nach einer Weile, erinnert sie sich, floss einem im trockenen Mund der Speichel zusammen und verwandelte sich in honigsüßen Saft.
Nicht alle Protagonisten der Erzählung überleben diese Torturen. Gülüzar, so viel sei vorweggenommen, gehört dazu. Der Autor Haydar Karataş ist selbst ein Kind des Dersim. Der 1973 Geborene hat in diesem Roman, dem mittleren Teil einer Trilogie, die Erfahrungen seiner Vorfahren verarbeitet und sie in deren Traditionen und Rituale eingebettet. Indem er die Sicht eines Kindes als Erzählstruktur wählt, kann er sämtliches Erwachsenenwissen, alle Erfahrungen und Einordnungen ausblenden. Was bleibt, ist die Schilderung dessen, was zu sehen ist, und die Wiedergabe dessen, was gesagt wurde - den einfachen und schnörkellosen Gedanken eines Kindes folgend.
Diese Reduzierung macht all das Schreckliche noch viel schrecklicher. Plötzlich erscheint es dem Leser ganz und gar folgerichtig, wenn sich Menschen dem Glauben an höhere Mächte ausliefern, wie dem allmächtigen, unüberwindlichen Berg Düzgün mit dem Beinamen Baba, Vater. Der Vater soll Wildziegen schützen und den Zweibeinern Versteck und Zuflucht bieten. Mitunter fällt es schwer, die gewundenen Erzählpfade zwischen Märchen und Realität auseinanderzuhalten, besonders in den langatmigen Vorträgen der Onkels und Tanten, der Paschas, Gevatterinnen, Verrückten und Einarmigen, die Fecire Hatun und ihre Tochter Gülüzar begleiten, ihre Wege mitgehen, nur kreuzen oder schnell wieder verlassen. Doch diese Grenzen, verschwimmen sie nicht auch anderswo? - Ein ungewöhnlicher Roman. Er beschreibt einen besonders brutalen Abschnitt der Menschheitsgeschichte mit der Wucht kindlich-naiver Poesie. Doch gerade das entfaltet einen Sog, der einen nicht mehr loslässt, ehe man die letzte Seite zu Ende gelesen hat.
Haydar Karatas: Nachtfalter. Roman. Aus dem Türkischen von Sara Heigl. Dagyeli Verlag. 247 S., geb., 19,80 €.
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